Lärm

Eine Nacht in der Einfahrt zur Marina in Jesolo, festgemacht neben den großen bilancie, den Senknetzen der Fischer, unweit des Leuchtturms, was alles sich recht romantisch anhört – eine solche Nacht also gibt einem einen Vorgeschmack auf die Vorhölle, oder auf schlimmeres. Vis-à-vis der Idylle nämlich hat sich eine Stranddiskothek eingenistet, die während der sechs Stunden vor Mitternacht einen ganz unfaßbaren Lärm produziert. Und wäre nicht schon die schiere Lautstärke Grund genug für eine Anzeige wegen Körperverletzung, so gesellt sich noch die tatsächlich unermeßliche Niveaulosigkeit der Musik hinzu, die nicht anders denn für eine schwerwiegende Beleidigung genommen werden kann. Um einen Eindruck von dem zu ermitteln, das sich hier Musik nennt: Keine Melodik ist auszumachen, auch keine Rhythmik, noch gar ist etwas zu erkennen, das an Akkordfolgen etwa im Sinne einer Kadenz auch nur leise erinnern würde – belämmert und behämmert wird der Zuhörer mit nichts als endlosen Wiederholungen kleinster entwicklungsloser Fragmente, denen allenfalls hin und wieder durch einfallslose technische Griffe eine Art von Kippbildeffekt übergestülpt wird. Nicht anders verhält es sich mit dem, was einstens einmal als Text bezeichnet wurde: Mehr als drei Worte scheinen die Kapazität von Discjockey wie Publikum zu übersteigen, doch werden diese drei dafür stets mehrere hundert Male wiederholt. – Mag hier keiner sich verleiten lassen, zaghaft seinen Zeigefinger zu erheben und leise »minimal music« zu rufen: Um solches geht es beim besten Willen nicht.

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EIN DENKMAL FÜR CASANOVA, ZWEITE LIEFERUNG – ES GIBT WIRKLICH EINES!

Vor längerer Zeit war hier an dieser Stelle von dem unglücklichen Schicksal des Denkmals für Casanova, den alten Schwerenöter, zu lesen, dessen 30 Tonnen Granit nebst seinen Bronzefiguren in den Industrieruinen Margheras ein elendes Dasein fristen, nachdem ihnen vor nunmehr zwanzig Jahren ein kurzer glanzvoller Auftritt auf dem Markusplatz beschieden gewesen war, während des Canevals 1998. (Was heutzutage zu dieser Zeit den Markusplatz bespielt, ist noch viel schlimmer.) Das wird es also gewesen sein mit einem Monument für Casanova, denkt man sich, und ist dann um so erstaunter, wenn man im Internet auf ein Monument pour Casanova stößt, hier in Venedig, und dazu noch in der Frarikirche. „EIN DENKMAL FÜR CASANOVA, ZWEITE LIEFERUNG – ES GIBT WIRKLICH EINES!“ weiterlesen

Anrüchiges

Vom Standpunkt der Abwasserwirtschaft aus ist Venedig keineswegs in der Gegenwart angekommen. Ein Kanalsystem gibt es nicht, etwa ein Drittel der Abwässer wird in Fäkalientanks gesammelt und regelmäßig von eigens ausgerüsteten Kähnen abgepumpt, der Rest landet wie eh und je ungeklärt in der Lagune und wird mit der Ebbe in die Adria gespült.

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Gender Trouble In Venice

Gilberto Penzo, der unbestrittene Fachmann in allen Fragen venezianischer Wasserfahrzeuge – er betreibt einen kleinen Laden in San Polo, wo er allerhand Modelle feilbietet, vom sàndolo bis zur Autofähre, ist zudem Autor diverser Standardwerke über Gondeln, forcole und anderes, so auch über vaporetti – berichtete vom langsamen Niedergang der Gondelwerften: In fast allen squeri gäbe es keine Söhne, sondern nur Töchter, und diese hätten kein Interesse, das väterliche Gewerbe fortzuführen.

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CAPITAN BRAGADIN

Die Capitan Bragadin – das klingt, obwohl korrekt, ein wenig befremdlich; sagen wir also der Capitan Bragadin – ist ein ausgedienter Vaporetto, wenig jünger nur als die INO und liegt unweit von ihr auf der Giudecca, im Cantiere Navale Toffolo, einer der wenigen noch übriggebliebenen von den einstmals zahlreichen venezianischen Werften. „CAPITAN BRAGADIN“ weiterlesen

Francesco di Giorgio Martini. Eine Empörung

Eines der liebsten Kunstwerke in Venedig ist mir, seit ich sie zum ersten Mal sah, immer Francesco di Giorgio Martinis Kreuzabnahme in Santa Maria del Carmine gewesen, gleich mir ein Fremdling in Venedig, der hier ein etwas eigenbrötlerisches Dasein fristet. Wie vieles andere in der Stadt verdankt die Bronzeplatte ihr Hiersein einem Raubzug, doch ungleich etwa dem Leichnam des hl. Markus, den Tetrarchen oder der Quadriga ist sie nicht ins Gewebe der Stadt eingefügt, nicht in das rhetorische Geflecht des Selbstverständnisses und der Repräsentation vereinnahmt worden.

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Verspätete Miszellen zum Carneval

Der veneziano im carnevale

Venezianer sucht man hier vergeblich – sie scheinen für die Zeit des Carnevals die sinkende Stadt verlassen zu haben. Die Hoffnung, sie könnten sich vielleicht hinter der Anonymität der allgegenwärtigen Masken verborgen halten, zerstiebt, wenn diese den Mund aufmachen: Mehr als die Hälfte spricht deutsch, die anderen unterhalten sich auf amerikanisch oder französisch. Freilich finden sich auch Italiener, wir wollen nicht allzu polemisch sein.

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PALISSYS EIDECHSE

Die hier auf unserem zerfallenden Industriegelände neben den Moskitos am häufigsten vorkommede Tierart sind wohl die Eidechsen, kleine, sympahische, ungemein gelenkige und flinke Wesen, deren Leben sich in einem merkwürdigen steten Wechsel aus Starre und blitzschneller Aktion abzuspielen scheint. Jede Bewegung beginnt unvorhergesehen aus völliger Reglosigkeit und erreicht unmittelbar ein Äußerstes an Tempo, ohne Anlaufzeit oder Einschwingen, um dann ebenso abrupt, ohne jeden Übergang, abermals in eine vollständige Bewegungslosigkeit einzufrieren. Nur diese zwei Extreme an Lebenszuständen scheint die Eidechse zu kennen, perfekte Erstarrung und bedingungslose Agilität. Scheu und furchtsam sind sie, und ergreifen eiligst die Flucht, wenn man ihnen zu nahe kommt.

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EINE BEMERKENSWERTE BEOBACHTUNG

Vor der Punta della Dogana, am frühen Abend

unlängst bei der festa del Redentore. Bei diesem Anlaß, der, wie alles in Venedig, die Massen der Touristen anzieht, sind die Venezianer dennoch unter sich. Schieben sich jene in Erwartung des großen Feuerwerks auf Zattere hin und her, stehen sich am Markusplatz die Beine in den Bauch, drängen sich auf der Riva degli Schiavoni, schubsen sich an der Punta della Dogana, quetschen sich über die eigens errichtete Schiffsbrücke hin­über zur Giudecca, so versammeln sich die Venezianer auf dem Wasser. Was immer Zugang zu einem Boot hat – früher hätte man sagen können: Wer immer ein Ruder halten kann – versucht, sich rechtzeitig im Bacino di San Marco oder im Canale della Giudecca einen guten Platz zu sichern, um das mitternächtliche Spektakel aus der rechten Perspektive mitbekommen zu können. „EINE BEMERKENSWERTE BEOBACHTUNG“ weiterlesen

DOTTO, BRONTOLO, PISOLO & CIE.

Nach vier Tagen anstrengender Arbeit in einem Raum von nicht mehr als anderthalb Metern Höhe, sprich also im Rumpf unter dem Vorderdeck, hat die Vorstellung eines Lebens als Zwerg durchaus ihre attraktiven Seiten. [Eine Buchempfehlung: Urs Widmer, Ein Leben als Zwerg, Zürich 2006 — ein elaboriertes Werk über die Perspektive, in dessen Schlußsatz der erzählende Betrachter das Verschwinden einer Figur am Horizont aus deren auf ihn selbst gerichtetem Blick beschreibt.] Wäre man gerade einmal, sagen wir, sechseinhalb Spannen hoch, dann ginge einem die Arbeit hier unten leicht, flüssig und angenehm von der Hand und nicht als eine solche exponentiell sich steigernde Quälerei von der Art, wie man sich etwa die Arbeit in einem mittelalterlichen Bergwerk vorstellt. „DOTTO, BRONTOLO, PISOLO & CIE.“ weiterlesen

45°27’39’’N/12°15’40’’O – ALLES EINE FRAGE DER PERSPEKTIVE

Nimmt man von Mestre, sofern man sich nicht ganz gezielt der kalten Dusche banaler Wirklichkeiten aussetzen will – oder sofern man nicht dort Quartier zu nehmen gezwungen ist, weil das Budget für Venedig nicht langt – nur das Gewirr der Hochstraßen und dubiosen Parkplätze wahr, wo einem vor der Feerie Venedigs noch einmal so recht das Bild der Wirklichkeit der Welt vor Augen geführt wird, so wird man von Marghera kaum je auch nur gehört haben. „45°27’39’’N/12°15’40’’O – ALLES EINE FRAGE DER PERSPEKTIVE“ weiterlesen

EINE NACHRICHT, DIE UNS BEUNRUHIGT

Giovanni Battista Piranesi, Veduta del Castello dell’Acqua Felice, 1748-1774

Die Zeitungen vermelden, in Rom müsse das Wasser rationiert werden: Für jeweils acht Stunden werde es, so hieß es, reihum in den verschiedenen Stadtteilen abgeschaltet. Der Grund hierfür seien die außerordentlich hohen Leitungsverluste, die nahezu die Hälfte des Wassers betrügen und die dem arg vernachlässigten maroden Leitungsnetz geschuldet seien. Nun war Rom seit altersher eine Stadt, die, bildlich gesprochern, auf dem Wasser gebaut war: Seit der Antike vertraute sie auf ein ausgeklügeltes verläßliches System von Wasserleitungen, und der Nieder-, ja beinahe Untergang der Stadt in den Wirren der Völkerwanderungszeit ist nicht zuzletzt darauf zurückzuführen, daß es nicht mehr gelingen konnte, die Wasserversorgung aufrechtzuhalten. Das ganze Mittelalter über war nur ein kleiner Teil des antiken Stadtgebiets bewohnbar, und auch das Rom der Renaissance beschränkte sich in seiner Ausdehnung auf das Tiberknie. Erst die energischen und weitsichtigen Unternehmungen Sixtus’ V., der nicht nur die antiken Wasserleitungen instandsetzen, sondern darüberhinaus eine neue anlegen ließ, die Aqua felice (nach seinem Geburtsnamen Felice Peretti), bahnte den Weg für eine Neubesiedlung der ausgedehnten Brachflächen intra muros. Bis weit ins 20. Jahrhundert hinein war die großzügige und freundliche Versorgung mit Wasser und der damit verbundene Schmuck der Stadt mit elaborierten Brunnenanlagen ein Anliegen der Mächtigen – in der Nachfolge der Barockpäpste legte zuletzt Mussolini ein Programm öffentlicher Brunnenbauten auf, das die ganze Stadt mit einem ästhetischen Netz überzieht (angelehnt wohl an das Projekt der Strukturierung des römischen Brachlands durch den erwähnten Sixtus vermittels der Markierung der wichtigen Orte durch die Wiederaufrichtung der Obelisken an ausgewählten Stellen). Was mag es nun bedeuten – für welches Omen sollen wir die erneute Infragestellung der Wasserversorgung der Ewigen Stadt in der aktuellen Völkerwanderungszeit nehmen?

[fb]