45°27’39’’N/12°15’40’’O – ALLES EINE FRAGE DER PERSPEKTIVE

Nimmt man von Mestre, sofern man sich nicht ganz gezielt der kalten Dusche banaler Wirklichkeiten aussetzen will – oder sofern man nicht dort Quartier zu nehmen gezwungen ist, weil das Budget für Venedig nicht langt – nur das Gewirr der Hochstraßen und dubiosen Parkplätze wahr, wo einem vor der Feerie Venedigs noch einmal so recht das Bild der Wirklichkeit der Welt vor Augen geführt wird, so wird man von Marghera kaum je auch nur gehört haben. Erst vom Ponte della Libertà aus, der langen Brücke, die das Festland mit der Stadt in der Lagune verbindet, wird der Reisende, sofern er sein Auge vom automobilen Fluchtpunkt abziehen kann und nach rechts wendet, über die archaischen Einrichtungen der Fischer hinweg am Horizont eines weiten, schimmernden Panoramas gewahr, der gezackten Kontur einer spätindustriellen Gralsburg: vil türne, manec palas / dâ stuont mit wunderlîcher wer – doch erweist sich, was sie zu versprechen vorgibt, alsbald als eine Ansammlung von Nichtigkeiten – Technik sonder Wunder, bar der Klarheit, denkbar weit entfernt vom Heroismus der Ingenieurskunst etwa eines Isambard Kingdom Brunel. Marghera, der Hafen von Venedig, eine der größte Ballungen von chemischer und Schwerindustrie in Europa, wird dem hochgestimmten Besucher Venedigs, wenn er es denn wahrnimmt, eine lästige Irritation sein, eine ästhetische Störung, eine unterschwellige Beunruhigung wie ein aufgeschobener Termin beim Zahnarzt. Denn Marghera stört mit seinem hartnäckigen Beharren auf die Zeitgenossenschaft des Banalen die eh schon brüchige Illusion eines ungebrochenen Fortbestands der Kultur, oder vielleicht bloß des Fortbestands einer Kultiviertheit, von denen man ja eigentlich ein Teil sein könnte, die man dann aber doch lieber bloß beglotzt, wie einen Fisch im Aquarium. Marghera ist der Makel der touristischen Großunternehmung und der Dorn im Fleisch passatistischer Schwelgerei, gleichzeitig in seiner gnadenlosen Unmittelbarkeit der explizite Gegensatz zur inszenierten und in genau dieser Inszenierung fragwürdigen Zeitgenossenschaft der Biennalen. Wirkliches wird von Marghera aus verkündet: Daß Venedig nämlich längst schon untergegangen sei.
Hier nun hat sich in unseren Text ein Perspektivwechsel eingeschlichen: War es eingangs darum gegangen, die Wahrnehmung Margheras als eine Befremdung aus der Distanz und vom Zentrum Venedig her zu beschreiben, so hat sich die räumliche Konstellation verkehrt, und wir finden uns unversehens in Marghera und schauen hinüber nach Venedig. Diese Vertauschung von Flucht- und Standpunkt entbehrt freilich der Symmetrie. Keineswegs ist es nämlich so, daß nun im Gegenzug die Wahrnehmung Margheras durch die Präsenz Venedigs eine Irritation erfahren würde, dahingehend etwa, daß das Bewußtsein der Nähe des Einzigartig-Schönen, das Venedig ja wie wohl kaum einem anderen Ort auf der Erde eignet, vielleicht Zweifel an der soliden Realität und Beständigkeit der Werften und Raffinerien zu schüren vermöchte. Und dabei spielte hier der Bestand des konkreten Objekts ja keinerlei Rolle: Die blechernen Kurzlebigkeiten von Marghera sind in gewissem Sinne viel mehr Prinzip als die vielbesungenen Steine Venedigs.
Im Hafen von Marghera ist Venedig tatsächlich so gut wie ausgeblendet: Von kaum einem anderen Ort dürfte sich die Stadt so belanglos und peripher ausnehmen wie von hier, 45°27’39’’N/12°15’40’’O, gerade einmal 6 Kilometer Luftlinie vom Markusplatz entfernt. Näher könnte man der Stadt kaum sein, doch empfindet man von hier aus eine Distanz, die sich nicht in Meilen messen läßt – und vielleicht beschriebe auch ›Distanziertheit‹ den Sachverhalt besser. Venedig entzieht sich, oder genauer: sein Bild ist entzogen, entrückt, doch nicht in das Karnevalistisch-Feenhafte der nutzlos gewordenen Städte, das ihm ja eh schon bis weit über den Überdruß hinaus anhaftet, sondern in die Irrelevanz achselzuckender Banalität.
Dabei ist Venedig für uns seit eh und je die schönste Stadt der Welt gewesen – wenn auch die Liebe zu ihr im Laufe der Jahre immer ärgeren Prüfungen ausgesetzt war, denen sie zunehmend weniger standzuhalten vermochte. Trotzdem ist die Stadt immer ein Ort der Sehnsucht gewesen – in der Phantasie, in der Wirklichkeit, in der Wirklichkeit der Erinnerung. Ausgesprochen befremdlich ist es da, daß hier, in unmittelbarer Nähe, so gar nichts mehr von alledem zu spüren ist, daß Venedig uns so gleichgültig ist wie den pakistanischen Arbeitern, die hier bei Fincantieri die großen Kreuzfahrschiffe zusammenschweißen.
Abermals hat sich eine Verschiebung der Perspektive ergeben, nämlich von der eines zu verallgemeinernden Betrachters hin zu einer individuellen. Der geographische Standort (45°27’39’’N/12°15’40’’O) ist nun hier allenfalls noch von marginaler Bedeutung, und es ist die Sache aus der Geometrie in die Metapher hinübergeglitten. In diesem Sinn hat wohl Nietzsche den Begriff aufgefaßt – er meint, alles sei eine Frage des Standorts und der Perspektive, was sicherlich mehr auf die Verfassung des Betrachters und die Strategie der Betrachtung gemünzt ist als auf das, was Brunelleschi und Alberti unter der prospettiva als einer geometrisch definierten Konstellation aus Augpunkt, Fluchtpunkt und Distanzpunkt verstanden. Ging es bei diesen um geometrisch-optische Gegebenheiten, also die Perspektive als den Ort, an dem die Übereinstimmung von Wahrnehmung und Wirklichkeit ihre Wahrheit erwies, so ist es bei jenem die Formulierung des Perspektivismus als Grundlage jeglicher Beziehung des wahrnehmenden Subjekts zur Welt.

Vittore Carpaccio, Parisurteil, um 1495. Bergamo, Accademia Carrara.

In der Accademia Carrara in Bergamo findet sich ein kleines Ölgemälde, 13,2 x 27,6 cm groß, einst für ein Frühwerk von Giorgione gehalten, heute jedoch Carpaccio zugeschrieben, das als Parisurteil bezeichnet wird und im letzten Lustrum des Quattrocento entstanden sein dürfte. Es zeigt einen jungen Mann mit langem blondem Haar und Federbarett, vor einem leicht nach links aus der Bildmitte verschobenen kahlen Baumstamm inmitten einer weiten Landschaft, die alle Elemente Arkadiens in exemplarischer Weise versammelt: Teich, Hügel, Wiese, Hain. Sein ungezwungenes, doch nicht unelegantes Gewand paßt vielleicht besser zu dem Titel, unter dem das Täfelchen als Werk Giorgiones galt, ›Page in der Landschaft‹, als zu Paris, der zum fraglichen Zeitpunkt auf dem Berge Ida als einfacher Schäfer lebte. Einzig den Jüngling und die Landschaft enthält das Bild – nichts also ist zu finden, das das Sujet als Parisurteil identifizieren hülfe, kein goldener Apfel, keine Göttinnen, kein Hermes. Zu klären, wie das Werk zu seinem Titel kam, ist hier nicht der Ort. Nähmen wir ihn kritiklos als gegeben, so könnten wir uns an dem ausgesprochen hübschen perspektivischen Vexierspiel erfreuen, das sich dadurch ergäbe: Der Paris im Bild betrachtete den Betrachter, der sich, besähe er das Bild im Bewußtsein seines Titels, nun in die Position der Göttinnen versetzt fände. Der Effekt wäre ein denkwürdiger – die Sprengung des Bildraums und dessen Synchronisierung mit dem Raum des Betrachters. Letzteres ist nichts anderes als das, was die Zentralperspektive, die große Erfindung der frühen Renaissance, betreibt, wenn sie die Verbindung des im Bild dargestellten Raums mit dem Raum des Betrachters mathematisch beweist und damit meint, der Ökonomie der göttlichen Weltordnung in einem entscheidenden Punkt auf die Schliche gekommen zu sein. Die Perspektive des Parisurteils betriebe, ohne daß irgendetwas im Bild wäre, mit dem gemeinhin ein perspektivischer Raum aufgebaut wird, dasselbe durch das Wechselspiel der Blicke – dem des Betrachters auf den Jüngling und dem des Jünglings auf die ihn betrachtenden Göttinnen, deren Blick mit dem des Betrachters identisch wäre. Eine durch und durch rhetorische Perspektive hätten wir hier also vor uns – etwas, das freilich Skepsis verdient und sicherlich dem Carpaccio wird ebensowenig unterstellt werden können wie die entscheidende Rolle eines Titels für die Betrachtung. Doch ist im Grunde jeder Blick auch ein Spiegel. [fb]