Architektur als Zeitreise: Der denkwürdige Eklektizismus der Handelskammer in Mantua

Aldo Andreani, Palazzo della Camera di Commercio, Mantua, Blick von der Treppe durch die lucerna in die Loggia del Mercato
Spätestens seit Prousts Beschreibung der Kirche von Combray im 1913 erschienenen ersten Band der Recherche können wir uns den Raum der Architektur als einen vierdimensionalen denken, seine drei überkommenen Dimensionen erweitert um eine vierte, die der Zeit. Proust hat jedoch nicht in erster Linie die Architektur im Sinn – er läßt ein vieldimensionales Bild entstehen, das der Erzäh­lende aus seiner Kindheit her im Gedächtnis hat und in dem sich individuelle und kollektive Erinnerung verweben. Kunst- und Kultur­ge­schich­te, Geschichte überhaupt; die Kirche der Kindheit mit ihren Gräbern, Tapis­serien und Glasfenstern, ihren Spuren von Zeit und Verfall, ihren Schichten und Überlagerungen entbirgt Frü­hestes, nicht individuell Erinnerbares. Ferne und fernste Vergan­gen­heit wird beschwo­ren, Mittelalter, selbst pagane Tradition – er geht zum Platz der Familie in der Kirche »wie durch ein von Feen bewohntes Tal, in dem der Landmann mit Staunen an einem Fel­sen, einem Baum, einem Teich die noch greifbare Spur ihres geisterhaften gelegentlichen Erscheinens erkennt«.

Die Kirche ist für Proust ein Bauwerk, »das sozusagen einen vierdimensionalen Raum einnahm – die vierte Dimen­sion war die der Zeit – und das mit seinem durch die Jahr­hunderte gleitenden Schiff von einer Empore, einer Kapelle zur anderen nicht nur einige Meter zu durchmessen und zu überwinden schien, sondern aufeinanderfolgende Epochen, aus denen es siegreich hervorgegangen war«. Die Archi­tektur­beschreibung des Romans erweist sich als ein Kon­glo­merat aus den verschiedenen Techniken des Erinnerns, eine Art Collage der Erinnerungen: Die individuelle gibt den Blick frei auf die Geschichte und darüberhinaus auf den Mythos als die früheste Schicht kollektiven Gedächt­­nisses. — Der Unzulänglichkeit der Übersetzung wegen sei die Passage hier im Original wiedergegeben: »[…] je m’avançais dans l’église […] comme dans une vallée visitée des fées, où le paysan s’émerveille de voir dans un rocher, dans un arbre, dans une mare, la trace palpable de leur passage surnaturel, tout cela faisait d’elle pour moi quelque chose d’entièrement différent du reste de la ville : un édifice occupant, si l’on peut dire, un espace à quatre dimensions — la quatrième étant celle du Temps, — déployant à travers les siècles son vaisseau qui, de travée en travée, de chapelle en chapelle, semblait vaincre et franchir non pas seulement quelques mètres, mais des époques successives d’où il sortait victorieux […].«
Ermöglicht wird diese Erweiterung des zuvor dreidimensional gedachten Raums um die eindimensionale Zeit zu einem vierdimensionalen Kontinuum durch den wenige Jahre zuvor, 1905 veröffentlichten und auch in den Salons heftig diskutierten Aufsatz Zur Elektrodynamik bewegter Körper, in dem von Einstein zum ersten Mal die spezielle Relativitätstheorie formuliert worden war, nach der die Zeit nicht mehr als eine eigenständige Dimension aufgefaßt werden kann, unabhängig von denen des Raums. Immerhin scheint ein solcher Gedanke zur Zeit der Abfassung von Du côté de chez Swann Proust noch so wenig vertraut, daß er die ein wenig unbeholfene Erklärung einzuschieben sich veranlaßt sieht, es handle sich bei der vierten Dimension des Raumes um die der Zeit. Freilich hat Prousts so hübsche wie auch anschauliche Metapher vom Raum des Schiffs, das durch das Meer der Zeit fährt, nur mittelbar mit der modernen Physik zu tun. Tatsächlich ist er viel näher an einem altvertrauten Bild, nämlich der in der griechischen Antike entwickelten Mnemonik, der Gedächtniskunst. Diese war zunächst Teil der Rhetorik, sie erlaubte es dem Redner, die einzelnen Teile einer Rede verläßlich im Gedächtnis zu behalten und auch in der korrekten Reihenfolge wieder abzurufen. Das Verfahren besteht in der Verbindung von Begriffen und Orten: Zunächst wird dem Gedächtnis eine Folge von loci eingeprägt, etwa in Gestalt eines geräumigen Gebäudes mit überschaubarer Struktur. Während eines Gangs durch diese imaginäre Architektur wird nun das zu Erinnernde auf die einzelnen Orte verteilt, in Form von Bildern – im konkreten oder im abstrakten Sinn – im Gebäude deponiert. Das Abrufen der Erinnerung erfolgt dann durch einen abermaligen Gang durchs Denkgebäude, wo nun die abgelegten Bilder und die damit assoziierten Teile der Rede vollzählig und in der richtigen Reihenfolge wiedergefunden werden. Diese auf die Praxis der freien Rede zugeschnittene Verfahrensweise, die die Alten zu ganz unglaublichen Gedächtnisleistungen befähigt haben soll, wird, spätestens als die Scholastik sich ihrer bemächtigt, dadurch erweitert, daß die Gedächtnisbilder zu Gleichnissen, die loci aber zu mystischen Orten der Introspektion werden und das Ganze zu einem Instrument der theologischen Wahrheitsfindung (ausführlich zur Mnemonik und ihren Wendungen und Verästelungen s. Frances A. Yates, The Art of Memory, London 1966, dt.: Gedächtnis und Erinnern. Mnemotechnik von Aristoteles bis Shakespeare, Berlin 1997).
Ob Proust, laut eigenem Bekunden sehr von dem Buch L’Art réligieux du XIII. siècle en France des Kunsthistorikers Émile Mâle beeindruckt, nach dem die gotische Kathedrale als eine steingewordene summa der scholastischen Theologie zu lesen sei, sich tatsächlich mit seiner Schilderung der Kirche von Combray auf die Scholastik und deren Konzeption der Mnemonik bezieht – was nicht zuletzt im Kurzschluß mit den bahnbrechenden neuesten Erkenntnissen der Physik eine bemerkenswerte Konjunktion beinhaltete – sei dahingestellt. Hier ist lediglich von Interesse, daß er diese Verdichtung des komplexen Erinnerns genau nach dem Modell der aus der Antike überkommenen und bis weit in die Neuzeit hinein bedeutsamen Verbindung von Erinnerung, Architektur und Bildwerk gestaltet, freilich nicht als ein Imaginiertes wie bei den alten Rhetorikern oder ein Konstruiertes wie etwa bei dem berühmten teatro della memoria des Giulio Camillo (~1480-1544), den Umberto Eco als »den hemmungslosesten aller Mnemotechniker« bezeichnet, sondern als ein Authentisches, Vorgefundenes, Gefundenes, dessen Elemente die Dinge an sich sind als der authentische Stoff der Erinnerung – allerdings nur, wenn man unterschlägt, daß Proust die Kirche in Combray ja eigens zum Zweck der Darlegung seines Konzepts der Memoria erfunden hat.
Ecke Via Pietro Fortunato Calvi / Via Giovanni Battista Spagnoli
Das Haus der Handelskammer in Mantua (1911-14) ist fraglos eine der bemerkenswertesten Schöpfungen der italienischen Architektur des beginnenden novecento. In der Hemmungslosigkeit seines entfesselten Eklektizismus muß es demjenigen eine arge Zumutung sein, der sich auf dem doktrinären Sofa der Moderne so recht bequem eingerichtet hat, angetan mit einem Bauhausschlafmützchen, in dessen kühner Zipfellosigkeit der Heroismus des Trägers sein adäquates Bild findet. Es hat nun aber der heroische Akt des Bruchs mit der Geschichte, der unter der Flagge eines moralischen Anspruchs an die Architektur dahergesegelt kam, längst einer trägen Geschichtsvergessenheit Platz gemacht, was sich nicht zuletzt daran zeigt, daß die Baugeschichte an den meisten Architekturfakultäten allenfalls ein marginales Dasein fristet – alles, was sich vor der Gründung des Bauhauses vor einem Jahrhundert ereignete, scheint schlichtweg nicht mehr als ›relevant‹ zu gelten, und es kann derjenige, dem Namen und Werk etwa eines Mies, Aalto oder Corbusier nicht gänzlich unvertraut sind, sich als durchaus historisch informiert, ja gebildet fühlen. Dabei hat gerade letzterer (nicht ohne das ihm eigene Pathos) von sich behauptet, er habe nur einen einzigen Lehrmeister gekannt, nämlich eben die Geschichte – was sicherlich in noch weit größerem Maß für einen anderen der Heroen gilt, Louis Kahn. Nun ist die Geschichte eine retrospektive Angelegenheit, eine ordnende Rückschau, die, vielleicht notwendigerweise, all dasjenige als fruchtlose Sackgassen abtut, das sich nicht in die Konstruktion einer gradlinigen Entwicklung vereinnahmen lassen will. 
Aldo Andreani (1887-1971)

Hier betritt nun Aldo Andreani (1887-1971) die Bühne, der Architekt des palazzo della camera di commercio, der sich zweifellos als ein Protagonist des Modernen verstand – als una cosa moderna nell’insieme, modernissima di sagoma, ›eine im Ganzen moderne Sache, von modernster Form‹ beschreibt er sein Projekt, weist jedoch gleichzeitig auf ›ein Skelett von antiker Linienführung‹, un’ossatura di linea antica. Die Anwendung des Wortes ›modern‹ auf ein Gebäude von so unzweifelbar eklektizistischem Anstrich mag uns irritieren, doch darf nicht vergessen werden, daß um 1911, als Andreani dies formulierte, der Begriff noch längst nicht als Bezeichnung für einen Stil etabliert war und daß der Kanon dessen, das in der Folgezeit als ›die Moderne‹ verstanden werden sollte, mit Gropius’ und Meyers Fagus-Werken gerade erste Wurzeln zu schlagen begann – einem Bau übrigens, der, wie Jan Pieper aufzeigt (Bauwelt 10/2009), bei allem ins Auge stechenden Avantgardismus der Erscheinung sich kaum weniger auf historische Architektur bezieht, als dies bei Andreanis Projekt der Fall ist, auch wenn die Ergebnisse auf diametral entgegengesetzte Positionen schließen zu lassen scheinen. 

Walter Gropius und Adolf Meyer, Fagus-Werke, Alfeld, 1911
Die Gegenüberstellung der beiden Gebäude ist wohl auch insofern von Interesse, als sie beide gleichzeitig entstanden, zu einem Zeitpunkt, als noch keineswegs abzusehen war, welche Richtung die Entwicklung der Architektur nehmen würde. Für das 19. und das beginnende 20. Jahrhundert ist es somit unsinnig, sich auf einen Gegensatz von Eklektizismus und Moderne zu berufen – ›die Moderne‹ galt es erst zu erfinden, und was sich ins Feld führen läßt, ist ›das Moderne‹, als dessen angemessene und folgerichtige Formulierung eben gerade der Eklektizismus galt. Nach Karl Gutzkow, der das Moderne vom Begriff der Mode aus in Angriff nimmt (Die Mode und das Moderne, 1837), verwirft das Moderne das Alte nicht, »sondern modelt es nach eigenem Geschmack oder treibt es ins Extrem, wo es komisch wird, oder raffinirt sonst daran auf irgend eine Weise.« – »So wäre denn«, fährt er fort, »das Moderne recht eigentlich das Objektive im schwebenden Moment, die Tatsache der Zeit, an und für sich ohne Streit und Gegensatz, ohne Beziehung betrachtet.« Der Eklektizismus, der sich daraus für die Philosophie wie für die Baukunst ergebe, sei nicht Wiederholung alter Substanz, sondern Zinsertrag der alten Wahrheiten. Er zöge somit, ließe sich der Gedanke weiterspinnen, so etwas wie eine Summe der Geschichte, oder er könnte dies tun, wo er einem kritischen Bewußtsein entspränge und die naheliegenden Fettnäpfchen der Beliebigkeit vermiede. Von einem »kritischen Eklektizismus« ließe sich in diesem Zusammenhang sprechen, und Andreani wäre mit seiner mantovaner Handelskammer durchaus als dessen Exponent verstehen.
Doch der Reihe nach. Als die camera di commercio im Oktober 1914 fertiggestellt wurde, ein Jahr nach Erscheinen des ersten Bandes der Recherche, war Andreani 27 Jahre alt und Student am Mailänder Polytechnikum – 1917 erhielt er dort sein Diplom. Seinem Vater Carlo, ingegnere und Leiter des städtischen Bauamts in Mantua, ist es wohl zu verdanken, daß Andreani, ungeachtet seiner Jugend, mit einem derart anspruchsvollen Projekt betraut wurde; die Einreichpläne tragen die Unterschrift des Vaters. Studiert hatte er zunächst in Mailand und stand dort stark unter dem Einfluß von Camillo Boito, einem der Protagonisten in den teils heftig geführten Auseinandersetzungen um die Her­ausbildung einer nationalen italienischen Architektur. Die Frage nach einer solchen war in der Folge des risorgimento aufgekommen, der 1861 erfolgten Einigung Italiens, und sie war in der ersten Dekade des 20. Jahrhunderts noch keineswegs entschieden. Boito wandte sich sowohl gegen die Forderung nach einem neuen Klassizismus als auch gegen die Bestrebungen zur Schaffung eines neuen Stils; nach seiner Ansicht konnte der Charakter der Nation nur aus der Geschichte kommen, und er hielt die mittelalterlichen Stile für die geeignetsten, zum einen aus pragmatischen Überlegungen, da sie sich nach seiner Überzeugung leicht an die neuen Anforderungen anpassen ließen, zum anderen aus theoretischen, ihrer Synthese aus symbolischer Bedeutung und konstruktiven Aspekten halber – doch dürfte auch seine grundsätzliche Neigung zu den mittelalterlichen Bauformen eine Rolle gespielt haben. Eklektizistischen Bestrebungen stand er eher ablehnend gegenüber. Boito spielte auch eine entscheidende Rolle bei den Auseinandersetzungen um den richtigen Weg bei der Restaurierung von Gebäuden; hier vertrat er eine ›historische‹ Auffassung, daß nämlich alle Bauphasen eines Bauwerks als Zeugnisse der Geschichte gleichwertig zu betrachten seien, was nichts anderes heißt, als daß ein Werk der Architektur nicht notwendigerweise an einem Punkt in der Geschichte festzumachen sei, sondern als das Produkt von deren Verlauf aufzufassen. Er kann somit mit Fug und Recht als Schöpfer der modernen Denkmalpflege gelten, und seine Gedanken finden, wenn auch unter gänzlich anderen Vorzeichen, ihren Widerhall in der eigentümlichen eklektizitischen Konzeption der Handelskammer – wobei sich, was die Formensprache betrifft, deutliche Einflüsse von Boitos ehemaligem Schüler und späterem entschiedenem Opponenten zeigen, Giuseppe Sommaruga, einem der wichtigsten Vertreter der italienischen Spielart des Jugendstils. 
Giuseppe Sommaruga (1867-1917), Grand Hotel Campo dei Fiori, Varese, 1908-1912
Der palazzo della camera di commercio, Andreanis prominentes Früh- und in vielfachem Sinn auch Hauptwerk, ist zweifelsohne nicht frei von jugendlichem Ungestüm, ein Gebilde, das zuallererst durch seine Outriertheiten ins Auge sticht – extreme plastische Durcharbeitung, überbordender Detailreichtum, fast gewaltsame Unverfrorenheit der Kombination heterogenster Formen und Gestaltungsprinzipien. 
Das Gebäude besetzt zur Gänze einen Block in der unmittelbaren Nähe des Zentrums von Mantua, wenige Schritte nur von Albertis Sant’ Andrea, vom broletto, der piazza erbe mit den palazzi comunali und vom Baptisterium entfernt. Die Fläche war frei geworden durch die 1905 zum Zweck der Beseitigung der unhaltbaren hygienischen Verhältnisse erfolgten Niederlegung des mittelalterlichen Ghettos; zunächst war vorgesehen gewesen, dort Grünflächen anzulegen und Wohnungen zu bauen, doch verzichtete der Gemeinderat schließlich auf dieses Vorhaben und beschloß 1910 die Einrichtung eines modernen Finanz-, Gewerbe- und Handelszentrums. Zu diesem Zweck wurde das Grundstück aufgeteilt, die Hälfte an die Banca d’Italia verkauft, für die der prominente Mailänder Architekt Gaetano Moretti, einer der Lehrer Andreanis, 1914 ein recht einfallsloses Gebäude in etwas unentschiedenem Klassizismus aufführte, ein gutes Viertel der Handelskammer zur Verfügung gestellt, um dort die borsa di commercio zu errichten; der verbleibende Teil ging an den consorzio di bonifica dell’agro mantovano-reggiano, eine Institution zur Beförderung der Landwirtschaft.
Zu Beginn des Jahres 1911 arbeitete Andreani den ersten Entwurf aus. Er befand sich damals in Rom, wo er an der Rekonstruktion der Gemächer der Isabella d’Este für den Pavillon der Lombardei auf der Esposizione etnografica beteiligt war. Das Programm für das mantovaner Projekt war zu diesem Zeitpunkt nicht endgültig festgelegt – noch war offen, ob im obersten Geschoß die Räume der Handelskammer untergebracht oder Wohnungen eingerichtet werden sollten, und Andreani arbeitete zwei alternative Grundrisse aus, bei identischer Gestaltung des Äußeren. Für das Erdgeschoß jedoch standen die Nutzungen und ihre Verteilung im Gebäude grundsätzlich fest: Der größte Teil ist einer offenen, an der Nordecke positionierten und somit in Richtung der piazza erbe orientierten Markthalle vorbehalten, die östliche Ecke für ein kleines Postamt bestimmt, und in der westlichen ein Café untergebracht. Die übrigen Flächen sind einigermaßen beliebig mit unterschiedlichen und offensichtlich vorläufigen Funktionen gefüllt – ein definiertes Programm, das sich auf die Struktur Gebäudes hätte auswirken können, läßt sich für diese Partien nicht erkennen. 
Aldo Andreani, Palazzo della Camera di Commercio, Mantua, Grundrisse. V.o.n.u.: Obergeschoß, Zwischengeschoß, Erdgeschoß

Zusammengehalten wird das fast ein wenig desolate Konglomerat der unterschiedlichen Nutzungen zum einen durch die in vielfacher Hinsicht rigide Gestaltung des Äußeren, zum anderen durch das nicht weniger rigorose Konzept der Erschließung. Beides scheint für Andreanis Konzeption das Rückgrat abgegeben zu haben; die Funktionen und ihre Verteilung machen, abgesehen von der Markthalle, den Eindruck, als seien sie recht stiefmütterlich behandelt, auch sind sie für Andreani austauschbar, ohne daß Erschließung und Äußeres dadurch beeinflußt würden. Für die typologischen Überlegungen besitzen sie keine Bedeutung, und es sind weder Postamt, noch Café, noch der ursprünglich vorgesehene Polizeiposten von außen irgend ausgezeichnet, ja sie sind nicht einmal auszumachen. Dies mag verwundern bei einem Bauwerk, dessen Fassaden außerordentlich differenziert und vielgestaltig ausgearbeitet sind – es macht den Eindruck, als habe der Architekt hier seinem Gestaltungswillen die absolute Priorität eingeräumt und ihm die anderen Belange nahezu bedingungslos untergeordnet. Freilich mag ein solches Urteil vorschnell sein – Andreanis Bau wird man kaum gerecht werden, wenn man in ihm all die einzelnen Funktionen des vielfältigen Programms ausgedrückt sehen will. Viel eher sind es nur zwei unterschiedliche Funktionsbereiche, die sich abbilden, die Markthalle nämlich und ein als konsistent aufgefaßtes Konglomerat aus all den übrigen Aktivitäten, die das Gebäude außerdem beherbergt. Andreani schreibt, daß ihm, als er zum erstenmal von dem Projekt hörte, sogleich das Bild eines porticato grandioso, ampio di linee, limitato nei due lati da alte arcate svelte e severe, e stretto sugli altri due da una costruzione massiccia a piloni vor Augen gestanden habe, einer großartigen, weiten Halle, an zwei Seiten von hohen, schlanken und schweren Arkaden begrenzt, auf den andren beiden durch eine massive Konstruktion in Form von Pylonen. Diesen Gundgedanken setzt er konsequent und ohne übermäßige Skrupel im Umgang mit den funktionalen Anforderungen um; freilich ist die beschriebene Konstellation ja auch keineswegs ungeeignet für das, was er hier unterzubringen hat. Daß die beschriebene Aufteilung nicht so konsequent durchgeführt ist, daß sie sich auf den Baukörper selbst ausgewirkt hätte, der nur in der Gestaltung der Fassaden, nicht aber mittels einer Verteilung der Massen differenziert ist, nimmt die städtische Bauform des palazzo ernst, der, nicht zuletzt in seiner Ausprägung als palazzo del mercato, auf den Andreani sich in seiner Beschreibung des Projekts explizit bezieht, in den Block seines Baukörpers eine offene Loggia inkorporiert und der in seinen geschlossenen Räumen eine ähnliche Vielfalt unterschiedlicher Nutzungen beherbergt. Als Bezug auf einen norditalienischen Bautyp des 14. und 15. Jahrhunderts ist die Anlage des palazzo della camera di commercio also aufzufassen, der die stets betonten modernen Anforderungen und Bedingungen fest im architektonischen Erbe verankern will.

Ecke Via Goito / Via Baldassarre Castiglione

Doch so strukturiert Andreanis Konzept auch formuliert sein mag – am Gebäude selbst läßt es sich nicht ablesen, weder am Äußeren noch von innen. Es ist tatsächlich so, als habe er es darauf angelegt, die klare Anlage zu verschleiern, indem er sie mit alternativen Ordnungsmodellen überlagert, ja überfrachtet, die gänzlich andere hierarchische Modelle anbieten. Je nachdem, von wo aus das Gebäude betrachtet wird, und abhängig davon, auf welche Zusammenhänge das Augenmerk gerade gerichtet ist, drängt sich ein jeweils anderes Ordnungsmodell in den Vordergrund. So zeigen sich etwa die beiden geschlossenen Fassaden in strenger Symmetrie, dreiteilig mit deutlich ausgezeichnetem Mittelteil, die beiden anderen jedoch in betonter Asymmetrie. Erscheint bei diesen das Obergeschoß als einheitliches, dem Unterbau weitgehend unabhängig aufgesetztes horizontal ausgerichtetes Bauteil, so sind bei jenen die gleichen Elemente organisch mit dem Unterbau verflochten, und es überwiegt der Eindruck einer horizontalen Reihung vertikaler Glieder. Die tendenzielle Autonomie der einzelnen Fassaden wird jedoch durch die Ausbildung der Ecken unterlaufen, wo die jeweils zusammentreffenden Fassadenteile stets ganz gleich gestaltet sind. In mancher Hinsicht macht dies einen fast unbeholfenen Eindruck – als sollte das jugendliche Ungestüm der divergierenden Tendenzen mittels allerhand dem akademischen Repertoire entnommener Kunstgriffe zu einem konsistenten Gebilde glattgebügelt werden. Doch findet sich Vergleichbares als Kompositionsprinzip am neben Albertis Sant Andrea wohl prominentesten und sicherlich wirkungsmächtigsten Bau Mantuas, dem Palazzo del Te, errichtet zwischen 1525 und 1535 von Giulio Romano, that rare Italian master, wie ihn Shakespeare in Wintermärchen nennt. Giulio ist tatsächlich so etwas wie der Großmeister der zum Programm erhobenen Inkonsistenz, und wenige Beispiele werden sich in der Geschichte der Architektur finden lassen, an denen dies so lustvoll zur Schau gestellt wird, wie an seinen mantovaner Bauten. Andreanis Bezugnahme beschränkt sich nun keineswegs nur auf die generelle Disposition der Fassaden und ihre Beziehung zueinander, in der Art etwa, wie deren Relief bei Giulios Bau einheitlich über die Ecken gezogen wird, um sich dann als Teil unterschiedlicher Dispositionen zu erweisen, einmal nämlich eine breite Loggia flankierend, zum anderen aber geordnet durch das zentrierende dominante Element eines prominenten Portals.

Giulio Romano (1499-1546), Palazzo del Te, Mantua, 1525-1535
Auch im organischen Zusammenschluß seines Erd- und Mezzaningeschoßes und dessen Verhältnis zu den Arkaden der Loggia folgt er einer Vorlagedes Palazzo del Te, bei dessen Gartenfassade, und es lassen sich neben weiteren Verwandtschaften bei der Disposition noch andere finden, so in der recht gewalttätigen plastischen Ausbildung der Wände, wo Andreani Giulios bildhauerisch aufgefaßte Gestaltung des Äußeren paraphrasiert, mit dem Unterschied allerdings, daß bei ihm die übertriebene, in Stuck nachempfundene und wie aus prometheischem Lehm geknetete Rustika des Vorbilds wieder zurück in Stein übersetzt oder überführt ist – eine hübsche Wendung, wohl angetan, die Schraube von Giulios manieristischen Finten und Spiegelfechtereien noch ein Stück weiter zu drehen und so nicht nur das Werk zu zitieren, sondern eine Metaebene des Verweises einzuführen, indem Giulios eigentümliche Methode der Verfremdung angewandt wird.
Überhaupt läßt sich an Andreanis mantovaner Bau ein Vorrang der Verfahrensweise konstatieren, die das Augenmerk von der überbordenden Fülle der Bezüge alsbald auf die Technik des Zitierens, die Auswahl des Zitierten und das Ziel allesdessen lenkt. Betrachtet man die kritische Präzision der mehrschichtigen Bezugnahmen auf den Palazzo del Te, so wird rasch deutlich, daß bei den offensichtlichen stilistischen Inkonsistenzen kaum von einer bloß dekorativen eklektizistischen Beliebigkeit ausgegangen werden kann. Sicherlich wird man kaum falsch liegen mit der Vermutung, es folge die oft etwas gewaltsame, ja fast gewalttätige Amalgamierung heterogener Komponenten und Kompositionsprinzipien einem klaren Konzept, das die Elemente als Bestandteile einer eklektizistischen architektonischen Ikonographie nutzt und so eine architecture parlante im ursprünglichen Sinn entstehen läßt, einen Bau nämlich, der andere Architektur abbildet. — Auch hier steht Giulio Pate, weniger wohl mit dem Palazzo del Te, der es auf ein allgemeines Repertoire der Renaissancearchitektur abgesehen hat, sondern mit seinem eigenen Haus in Mantua, das Bramantes vielbewunderten Palazzo Caprini (auch bekannt als casa di Raffaello), eines der Hauptwerke des römischen Palastbaus der Hochrenaissance, paraphrasierend zitiert und in eine architektonische Groteske verwandelt.
Giulio Romano, eigenes Haus, Mantua, ca. 1544

Giulios augenzwinkernde ästhetische Dysfunktionalität, die die Elemente von Bramantes Fassade aus den sinnvollen Zusammenhängen reißt, für die und mit denen zusammen sie entwickelt worden waren, um sie zu merkwürdigen Paralogismen zu gruppieren, findet ihre Parallele in Andreanis Kombination eines dem Palasttyp der Renaissance folgenden mehrgeschossigen, in klare Traveen gegliederten Aufbaus von prominenten Partien seiner Fassade, wo jedoch an die Stelle der entsprechend den klassischen Ordnungen gebildeten Pilaster Gruppen von deutlich aus der Fassade heraustretenden Säulenbündel gestellt sind, die sich explizit an romanische Vorbilder anlehnen – eine historisch gesehen unvereinbare Konstellation, die noch dazu beiden wesensfremd ist. Als wäre dies nicht schon genug, wird der Sache gewissermaßen die Krone aufgesetzt durch das vollständige Fehlen eines oberen Abschlusses etwa in Gestalt eines Bogens oder eines Gebälks – als wäre sie an dieser Stelle unvermittelt abgebrochen und dann aus einem gänzlich anderen Geist heraus weitergeführt worden nimmt sich Andreanis Fassade hier aus (andere, weniger prominente Elemente weisen hingegen auf die Absicht einer Verzahnung der unterschiedlichen Zonen hin).

Ecke Via Goito / Via Baldassarre Castiglione

Ein Vorbild läßt sich auch hier bei Giulio ausmachen, im cortile della cavallerizza des palazzo ducale, dem wohl auch die exzessive plastische Durcharbeitung von Andreanis Fassade verpflichtet ist und wo vor die heftige Rustika der Wand gedrehte Halbäulen gestellt sind – ein Arrangement, das bei oberflächlicher Betrachtung grundsätzlich den Regeln der wohlgeordneten Fassaden der Hochrenaissance verpflichtet scheint, jedoch bei genauerem Blick der ausgefeilten Rhetorik von deren organischem Aufbau Hohn spricht – die Elemente und ihre Zusammenhänge sind auseinandergenommen und durcheinander­gewürfelt, um sich am Ende in grotesker Neukomposition wiederzufinden. Auch die Säulenordnungen, die kanonisierte Grundlage der Architektur, finden sich in dieses Spiel der Respektlosigkeiten einbezogen: Einen durch seinen Echinus als ionisch ausgewiesenen Säulenschaft mit einem dorischen Gebälk verbunden zu sehen, muß den Hütern einer reinen Lehre als arge Obszönität erscheinen – ganz abgesehen vom fehlenden Abschluß der Säule durch ein Kapitell und anderen Outriertheiten mehr.

Giulio Romano, Säule im Cortile della Cavallerizza, Palazzo Ducale, Mantua, ca. 1544 (http://www.clponline.it/mostre/giulio-romano-mantova)
Giulios gewalttätige Synthese solcher Unvereinbarkeiten findet ihren Widerhall in Andreanis Fassade mit ihrer gewaltsamen Kombination von der klassischen Tradition verpflichteter Gliederung – der von ihm selbst so bezeichneten ossatura di linea antica – und der Romanik entlehnten Gestaltung der einzelnen Glieder. Romanisches erscheint auch an anderen Stellen in Andreanis Bau so prominent, daß es sich als eine zweite, den Verweisen auf Giulio gleichwertige Bezugsebene auffassen läßt. So finden sich in der Loggia etwa Doppelsäulen, und es sind bei ihnen, wie auch bei allen übrigen im Gebäude, die Schäfte ohne Entasis als Zylinder gebildet. Die Basen folgen eindeutig romanischen Modellen, und die vielgestaltige Reihe der Kapitelle läßt sich als eine Grammatik der Würfelkapitelle lesen.
Die Giulioparaphrasen sind ohne weiteres als Ortsbezug zu verstehen – als das Anknüpfen an ein Werk, das wie kaum je ein anderes, mehr vielleicht noch als dasjenige Palladios, die gesamte europäische Architektur beeinflußte, ja bestimmte und dessen immenser Einfluß von Mantua seinen Ausgang nahm – und das in Andreanis Neigung zum Grotesken, zu Bizarrerien und Outriertheiten seinen Widerhall und Widerpart findet. Was aber hat es mit den romanischen Eskapaden seines Baus auf sich? — Camillo Boito, dessen Einfluß kaum unterschätzt werden kann, hatte die Bauformen des Mittelalters als Vorbild für eine moderne, zeitgemäße italienische Architektur vorgeschlagen, doch dürfte dies alleine für Andreanis Entscheidung für eine so explizite Hinwendung zur Romanik kaum ausreichend sein, zumal, wenn man bedenkt, welch analytisches Kalkül die Auseinandersetzung mit dem Werk Giulio Romanos erkennen läßt.
Blick von der Treppe durch die lucerna in die Loggia del Mercato
Mantua besitzt mit dem im 11. Jahrhundert entstandenen Zentralbau der Rotonda di San Giovanni ein bedeutendes Werk der Lombardischen Romanik. Nicht allzuviele Bauten dieses auch als ›Erste Romanik‹ bezeichneten Stils haben sich erhalten; zu nennen sind etwa Sant’ Ambrigio in Mailand, die Kathedralen von Modena, Parma und Piacenza oder Santa Maria Maggiore in Lomello. Was in der Lombardei entwickelt worden war, fand rasch weite Verbreitung und entwickelte sich zu einer Art lingua franca der europäischen Architektur – der Einfluß der lombardischen Baumeister und Handwerker läßt sich auch daran ablesen, daß lombardus zum Synonym für ›Steinmetz‹ wurde. Die frühe Romanik stand somit, zumindest aus italienischer Perspektive, ganz im Zeichen einer Wiedergeburt der Baukunst, die, fast im Sinne einer ›Avantgarde‹, von der Lombar
dei ausgegangen war und von der, vergleichbar dem europaweiten Einfluß der Werke Giulios im 16. Jahrhundert, die Standards für die gesamte europäische Architektur gesetzt worden waren.
Nicht unterschlagen werden kann hier, daß Andreani sich offensichtlich weniger an den strengen, lapidaren Formen der frühen lombardischen Romanik orientierte als an späteren, deutlich üppigeren Ausprägungen, wie sie sich etwa in Sainte-Madeleine in Vézelay finden. Zu verwundern vermag dies freilich nicht, denn nichts anderes als deren Üppigkeit hätte sich in der von ihm synthetisierten Formenwelt behaupten können.
Vézelay, Basilika Sainte-Marie-Madeleine, ab ca. 1120 (cmapspublic.ihmc.us)
Andreani kombiniert oder amalgamiert in seinem mantovaner Bau somit zwei architekturhistorische Leistungen von allererstem europäischem Rang, deren eine unmittelbar in Mantua zu verorten ist, deren andere dagegen die Region ins Visier nimmt. (Ob sich noch andere Schichten erschließen lassen und wie diese sich hier einfügen lassen könnten, dies zu klären sei einer späteren, eingehenderen Untersuchung vorbehalten.) Daß sein Vorgehen programmatisch zu verstehen ist, steht außer Zweifel, und in diesem Zusammenhang scheint mir im Kontext der Bestrebungen um die Herausbildung eines italienischen Stils in der Folge des risorgimento und im Zusammenhang mit dem als bevorzugtem Ausdruck für das Moderne diskutierten Eklektizismus ein bemerkenswerter Aspekt von Bedeutung. Andreani zielt, so könnte man sagen, wollte man seine Vorgehensweise verallgemeinern, für die zeitgemäße Architektur des neuentstandenen oder -erstandenen Italien nicht auf einen an formalen Kriterien ausgerichteten ›Stil‹ ab, sondern er entwickelt eine Verfahrensweise, die sich als ›historisch-kritischer Eklektizismus‹ bezeichnen ließe. Im Gegensatz zum Historismus, der eine ganz bestimmte, im Idealfall zeitlich eng begrenzte Periode mit regionaler Fokussiereung zu reproduzieren bestrebt ist, betreibt er eine auf den Ort zentrierte ›Tiefenbohrung‹ – oder eine Reise durch die Schichten der Zeit, ohne den Ort zu verlassen, ähnlich Prousts Kirchenschiff, das seinen Kurs durch die vierte Dimension nimmt. Was er auf seiner Zeitreise vorfindet, unterzieht er einer Analyse, um deren Resultate dann in sein modernes Vokabular und seine Gestaltungsprinzipien aufzunehmen und daraus sein Bauwerk als eine Art von Achse zu schaffen, die gewissermaßen an ihrem spezifischen Ort durch die Schichten der Zeit gesteckt ist. Ein solches Verfahren würde sich dann grundsätzlich auf ganz Italien anwenden lassen, auf jeden Ort und für jegliche Bauaufgabe, mit dem Ergebnis einer angemessenen, ortsbezogenen, vielfältigen und vielschichtigen Architektur, frei von jeglicher Uniformität und fernab der Banalität eines zur Verbindlichkeit erklärten, doch längst fragwürdig gewordenen ›Stils‹.
Treppenhaus

Der Eklektizismus als Hebamme der italienischen Nation – ein Nachtrag: Pellegrino Artusi, der mit seinem nicht genug zu rühmenden 1891 erschienenen Kochbuch La scienza in cucina e l’arte di mangiar bene nach eigenem Bekunden einen Beitrag zur Festigung und Vollendung der Einheit Italiens zu leisten sich zum Ziel gesetzt hatte, bediente sich eines eklektizistischen Verfahrens; er studierte minutiös die unterschiedlichen Regionalküchen, um durch sorgfältigen Abgleich und gewissenhafte Konzentration auf das Wesentliche, nicht weiter reduzierbare, aus der Vielfalt des Vorgefundenen den Kanon der italienichen Kochkunst herauszuarbeiten. Ein exzellenter Stilist, leistete er nebenbei mit seinem Buch, bis heute das nach der Bibel in Italien am weitesten verbreitete, einen entscheidenden Beitrag zur Durchsetzung einer einheitlichen italienischen Sprache.

 

 

 

Die photographischen Aufnahmen des palazzo della camera di commercio wurden von Fritz und Friedrich Barth angefertigt.