Unser erster Anlaufpunkt in Albanien war, nach dem Einklarieren in Shëngjin, das sich nicht nur chinesisch anhört, sondern auch so aussieht, Kap Radoni, früher San Giovanni di Medua, albanisch Kepi i Rodonit, benannt nach Redon, dem illyrischen Gott der Wanderer und Seefahrer. Schöner kann man es wohl nicht haben – wir ankerten in einer von fernen, im Dunst zerfließenden gestaffelten Bergketten umgebenen großen Bucht vor einer mit üppigster Vegetation bewachsenen langen schmalen Landzunge, deren schroffe erodierende Flanken sich mit sanft zum Meer hin abfallenden grünen Matten abwechseln.
Kaum an Land, war es sozusagen heiliger Grund, auf dem man stand – in einem Staat, der sich 1967 damit brüstete, der erste atheistische der Welt zu sein, in dem jegliche Religionsausübung verboten war und wo heute eine zunehmende Radikalisierung des wiedererstarkenden Islam zu beobachten ist. Mit dieser aber hat die Heilgkeit des Grundes nichts zu tun, ganz im Gegenteil. Sie ist das Ergebnis des Skanderbegkults, unter dessen Vorzeichen sich im 19. Jahrhundert eine starke Bewegung zur Befreiung von der Türkenherrschaft formierte, die nach mehreren Aufständen schließlich 1912 in die Gründung des Königreichs Albanien mündete. Doch stand das Schicksal des Landes der Skipetaren auch danach unter keinem guten Stern, um es zurückhaltend auszudrücken. Alle Regimes jedoch, so gegensätzlich ihre politische Ausrichtung auch gewesen sein mochte – royalistisch, faschistisch, stalinistisch, maoistisch, demokratisch – beriefen und berufen sich in irgendeiner Weise auf Skanderbeg, der im 15. Jahrhundert die Türken aus Albanien vertrieben und all ihren Invasionsversuchen erfolgreich getrotzt hatte und dessen Verehrung als die vielleicht stärkste Konstante in der grausamen Geschichte Albaniens während des 20. Jahrhunderts ist. Zu dieser gewalttätigen Zeit paßt es gut, daß auch Skanderbegs Leben unter dem Zeichen ganz außerordentlicher Grausamkeit und Gewalttätigkeit stand, in Übereinstimmung freilich mit seiner Zeit und der Region, der er entstammte. Seine außerordentlichen Fähigkeiten sind nicht zuletzt militärischer Art gewesen, wovon schon sein Name zeugt, ein Ehrentitel, der ihm für seine frühen Erfolge im Dienst der osmanischen Armee verliehen worden war: Iskender Bey, aus der türkischen Bezeichnung für Alexander den Großen und einem hohen, meist militärischen Rang, was dann zu Skanderbeg verballhornt wurde. Er war der Sproß des albanischen Adelsgeschlechts der Kastriota, wurde als Geisel des Sultans in Istanbul erzogen, angeblich ohne um seine Herkunft zu wissen, machte dank seiner Fähigkeiten eine rasche Karriere in der osmanischen Armee, wechselte, nachdem er im Alter von knapp 40 Jahren von seiner Abstammung Kenntnis erlangt hatte, die Seite, ließ sich taufen und schmiedete erfolgreich eine Koalition der albanischen Fürsten, mit dem Ziel, die Türken aus dem Land zu vertreiben. So lange er lebte, sollte es den Osmanen denn auch trotz immenser Anstrengungen nicht gelingen, sich Albanien zu unterjochen. — Das ist der Stoff, aus dem sich die Nationalhelden schnitzen lassen.
Auf Kap Radoni stehen die Überreste von Skanderbegs Burg, und daß es sich bei dem, was man hier noch sehen kann, um die Ruinen einer venezianischen Festungsanlage handelt, die erst hundert Jahre nach seinem Tod errichtet wurde, muß man nicht allzu genau nehmen, ist es ja mit nationalen Reliquien nicht anders als mit religiösen, wo der Glaube das Entscheidende ist und nicht die Authentizität. Es ist allerdings tatsächlich der Ort von Skanderbegs Burg; sein Vater hatte sie anlegen lassen, und von den Türken war sie bald nach seinem Tod zerstört worden. — Nun, die Ruinen machen sich malerisch aus, und die albanische Nationalfahne, groß, rot und mit dem schwarzen Doppeladler aus Skanderbegs Wappen sorgt für eine dem Ensemble nicht abzusprechende Feierlichkeit.
Von dem Ort aus, an dem wir den Fuß an Land gesetzt hatten, einem kleinen Sandstrand mit ein paar Liegerstühlen und einer Bar, die sich – Schwerter zu Pflugscharen! – in einem Stolleneingang eingerichtet hatte, der sich bei näherer Betrachtung als Teil eines aufgegebenen Bunkersystems erwies, erreichte man Skanderbegs Ruine über schmale, kaum gebahnte Pfade, vorbei an einer kleinen Kirche, einem Werk des 15. Jahrhunderts, das ohne Kenntnis der hiesigen Baugeschichte für romanisch gehalten werden müßte und das der Legende nach von Skanderbegs Schwester gestiftet worden war. Rund um sie verteilt ducken sich kleine graue Kuppeln aus Beton wie sprießende Champignons in die Landschaft und geben einen, ungeachtet man sich rasch ihrer Funktion als Bunker bewußt wird, fast possierlichen Eindruck; geht man weiter, findet man das Gelände oberhalb der Ruine durchlöchert von den unterschiedlichsten verlassenen Geschützstellungen, dazu weitere der kleinen Bunker, so, als sei die heilige Festungsruine eines ganz besonderen Schutzes bedürftig, eines starken hermetischen Schilds, etwa, weil in der Burg eine Art Talisman gesehen worden wäre, oder weil eine Prophezeiung das Schicksal des Landes, oder der Partei, oder Hoxhas selbst an sie geknüpft hätte – die romantische Konstruktion Skanderbegs, die ja ohne die breite literarische Tradition der historischen, vor allem der Ritterromane in der Folge Walter Scotts kaum so erfolgreich hätte sein können, läßt ja eine solche Vermutung ungeachtet ihrer Skurrilität leicht aufkommen, und es ist außerdem bekanntlicherweise bei Diktatoren jeglicher Couleur der Hang zum Aberglauben weit verbreitet. Wie dem auch sei – der aufwendige militärische Schutz der eher kümmerlichen Reste einer längst obsoleten militärischen Anlage, die allem Augenschein nach keinen anderen als einen symbolischen Wert haben konnte, erschien uns einigermaßen absurd, doch auch bemerkenswert als eine semiotische Spiegelfechterei.
Doch weit gefehlt. Während unserer Fahrt entlang der albanischen Küste zeigten sich überall dergleichen Bunkeranlagen in Hülle und Fülle – Hunderte der putzigen Betonpilze sprießen allerorten, und die Berge sind durchlöchert wie Schweizerkäse – das Land sieht aus, als litte es an einer Hautkrankheit. Es hatte nämlich Hoxha ein großangelegtes Programm zur nationalen Verteidigung auflegen lassen, das vorsah, für je vier seiner Untertanen eines der Bunkerpilzchen zu errichten – wobei man bei einer Bevölkerung von rund drei Millionen auf die stattliche Anzahl von 750000 Bunkern kommt. Hoxhas Verteidigungskonzept war nicht frei von einer gewissen Romantik, die sich aus Partisanenmythen speiste und ihre Nähe zu chinesischen Propagandafilmen der Sechzigerjahre kaum verleugnen kann: Das Volk selbst sollte im Falle eines Angriffs die Verteidigung übernehmen und aus den Bunkern heraus den Aggressoren trotzen, von denen sich der Diktator in zunehmender Paranoia umringt sah. Zu diesem Zweck wurden monatlich Übungen abgehalten, die bis zu dreiTagen dauerten und an denen sämtliche Reservisten, das heißt also nahezu die gesamte Bevölkerung teilzunehmen hatte. Der militärische Nutzen war von Anbeginn an fragwürdig, doch ein General, der seinen Zweifeln öffentlich Ausdruck verlieh und einer gut ausgerüsteten modernen Armee den Vorzug gab, wurde sogleich seines Amtes enthoben und mitsamt seinem Stab gemäß der Diktatur des Volkes gemaßregelt, sprich liquidiert.
Die Vermutung liegt nahe, Sinn und Zweck dieses Unternehmens, das Albanien an den Rand des wirtschaftlichen Ruins brachte, seien mehr auf die Sicherung der Machtansprüche des Regimes nach innen denn als Schutz vor einer Bedrohung von außen her gemünzt gewesen. Wenn es ein Handbuch für Diktatoren gibt, dann muß ein prominentes Kapitel davon handeln, daß weniges der Stabilisierung der etablierten Macht so dienlich sein kann wie die Konstruktion einer Bedrohung von außen – wobei selbstverständlich dazugehört, die Mittel, der Bedrohung zu entgehen, gleich mitzuliefern, und all dies dann beständig erneut ins Bewußtsein zu bringen und dort zu halten. Fast bewundernd will man Hoxhas geschickten Schachzug zur Kenntnis nehmen, dies mithilfe der monatlichen Übungen auch gleich zur Disziplinierung und Indoktrinierung seines Staatsvolks zu nutzen, denn wer hätte sich schon der große Aufgabe der nationalen Verteidigung versagen können?
Wieviele der Bunker tatsächlich gebaut wurden, weiß niemand genau, doch sind sie bestimmend für die Wahrnehmung der albanischen Landschaft, omnipräsent, was ja wohl auch ihr Zweck gewesen war. Keiner weiß, was mit ihnen anzufangen wäre – die Vorschläge reichen von der Notunterkunft über die Verwendung zur Pilzzucht, als Kiosk bis hin zum Pizzaofen. Immerhin, als Souvenir erlebt die verwehte Landesverteidigung des dahingeschiedenen Regimes eine zweite Blüte: In Stein gehauene Aschenbecher in Bunkerform dürften selbst mit der hier heftig blühenden Andenkenindustrie an Mutter Theresa, der albanischen Heiligen, konkurrieren können.