Delphische Gemütsergötzungen

Albert Tournaire – École nationale supérieure des Beaux-Arts
Gibt es einen anderen Ort, der in einem solchen Maß einen Eindruck des Heiligen zu vermitteln in der Lage sein könnte? Dessen Heiligsein keines Glaubens, ja nicht einmal einer Bereitschaft zur Religiosität verdankte, sondern der es vermöchte, dem Fernestehenden einen Eindruck, ein Empfinden von dem zu vermitteln, was ein Heiliges vielleicht sein könnte? Benares käme einem noch in den Sinn, als ein Ort, den man kaum als den Ausdruck einer systematischen Religion wahrnehmen wird, sondern der selbst heilig ist, an dem durch ihn und in ihm selbst sich das Heilige zu manifestieren scheint.

So also Delphi, und man fragt sich, worauf das zurückzuführen sein mag. Die Vermutung liegt nahe, daß das Ruinenhafte eine gewichtige Rolle spiele – nicht unbegründet ist der Neuzeit ja die Ruine in ihrem Unterworfensein unter die Prozesse der Natur Ort und Sinnbild des Erhabenen, das ja der Natur selbst und der Manifestation ihres Wirkens und ihrer Kräfte vorbehalten bleiben muß. Wäre somit in der Konfrontation von außerordentlicher Landschaft und dem Pathos der Ruine die Ursache für eine potenzierte Empfindung des Erhabenen und somit die spezifische Art unseres Berührtseins auszumachen? Dies müßte dann aber auch für andere Orte gelten, wo spektakuläre Ruinen sich in entsprechender Umgebung finden, doch lassen etwa die Reste des Fortunatempels in Praeneste, so imponierend sie immer sein mögen, nichts vergleichbares aufkommen. Kent gelingt dies mit seiner Praenesteparaphrase in Rousham weit besser, doch ist er freilich in der an Lorrains Malerei geschulten Inszenierung des Ensembles als Ort, an dem die Epiphanien lauern, auch deutlich näher am Theatralisch-Mimetischen.
Sicherlich ist das, was wir sehen, nicht von dem zu trennen, was wir vorzufinden erwarten, und selbst wenn wir uns keiner konkreten Erwartung bewußt sind, dürfte dennoch ein bereitetes Umfeld für bestimmte Aspekte des Vorgefundenen in besonderem Maße empfänglich machen und die Wahrnehmung in ein Geflecht bereiteter Kanäle lenken. Ein frischer Eindruck etwa von Euripides‘ Bakchen oder der lange Nachhall einer Hölderlinlektüre werden hier nicht ohne Einfluß sein, wähnt man sich doch dem griechischen Verständnis des Göttlichen und der Theophanie ein Stückweit nähergekommen und vermeint, in dem, was man hier vor Augen hat, die Manifestation des durch die Literatur als Prinzip Vorgeprägten zu erkennen – dies vielleicht um so mehr, als man kaum darauf gefaßt war.
Indessen gilt es, im Auge zu behalten, daß wir es mit einem elaborierten Kunstwerk zu tun haben – das freilich durch das Wirken der Natur in seinen ruinösen Zustand versetzt wurde und uns somit vielleicht zugänglicher ist, als ein in frischem Glanz erstrahlendes Werk es zu leisten vermöchte. Welch ungeheure Faszination übt etwa der Torso vom Belvedere gerade im Fragmentarischen aus – jede denkbare Vervollständigung, so plausibel sie auch sein mag, muß dagegen notwendig verblassen. Das Kunstwerk erlaubt, ja fordert geradezu die Frage nach den technischen Voraussetzungen seiner Wirkung (die alten Griechen hatten für beides, Kunst und Technik, einunddasselbe Wort, τέχνε). Die Natur auf ihre technischen Grundlagen hin zu untersuchen, wäre widersinnig, doch hier gilt es zu fragen, welche Mittel zu Anwendung gekommen sein mögen, um die Präsenz des Göttlichen zu inszenieren oder, wenn man es anders sagen will, den Bezirk als Ort der Theophanie in eine angemessene Form zu fassen.
Der Fassung des Orts, im Wortsinn als Einfassung genommen, ist hier tatsächlich eine nicht zu überschätzende Bedeutung beizumessen. Das griechische ἂγιος bezeichnet ursprünglich einen gegenüber dem Profanen ausgegrenzten Bezirk, bezieht sich also auf die Definition der Trennlinie und auf die Scheidung eines Inneren von einem Außenliegenden. Die Vorstellung des ›Heiligen‹ scheint sich also von einem ursprünglichen Begriff des Orts (τόπος, ›Ort-Raum‹) als eines Aus- oder Eingegrenzten abzuleiten, und es ist vielleicht bedenkenswert, ob sich nicht im Sinne einer Profanierung die Konzeption des Orts selbst ebendieser Assoziation verdanke.
Was die Mauern des delphischen Bezirks nun einschließen, ist eine Versammlung von Objekten von bemerkenswerter Autonomie – die sich, in Relation zu den sie umgebenden, fast als autistisch bezeichnen lassen, insofern, als sie ein jedes für sich kein Hehl daraus machen, daß von ihrer Geometrie, und hier insbesondere aus der betonten selbstrefentiellen Achsialität, ein anmaßender Anspruch auf eine potentiell übergreifenden Ordnung ausgeht, der das Vorhandensein eines selbständigen Benachbarten im Grunde nicht erlaubt. Doch sind freilich die Nachbarschaften auf so explizite wie exquisite Weise entlang des gewundenen Wegs hügelan in Szene gesetzt, und es komme keiner damit, die alten Griechen seien noch nicht soweit gewesen, die ordnende Kraft der Achse vom Einzelnen auf das Ensemble übertragen zu können – es ist ja hier gerade die Verbindung der geometrischen Perfektion des einzelnen Objekts mit der expliziten Negation geometrischer Bezüge zwischen diesen Objekten für deren Gewahrwerden vergleichbar einer Epiphanie verantwortlich – das Erscheinen des Gottes mag sich vielleicht mit Gefolge ereignen, doch nicht en compagnie. — Nebenbei bemerkt könnte hier ein Schlüssel zum Verständnis der griechischen Architektur zu finden sein: in dem Bestreben, den Bauten – den Tempeln – eine das menschliche Vermögen sprengende Perfektion zu verleihen, die sie entrückt und gleichsam zur versteinerten Epiphanie werden läßt.  
Die ordnende Versammlung im Bezirk von Delphi geschieht also einzig durch die Bestimmung der Grenze – Ein- oder Ausgrenzung – und auf geradezu auffällige Weise nicht vermittels einer geometrischen oder gar achsialen Ordnung.
In Delphi finden wir uns somit mit einem Ursprünglichen konfrontiert, einem Bezirk, der den Ort der Präsenz des Gottes faßt, und dies im Wortsinn, mittels einer Mauer. Der Gott west hier ursprünglich, und er bedarf im Grunde des Tempelbezirks nicht. Es ist anders als in Athen, wo im Parthenon, der Apotheose der Macht der Polis, das Wunderwerk des elfenbeinernen Bildnisses der Athene verehrt wird, die Göttin selbst aber weiter nicht anwest – die Akropolis, so könnte man sagen, ist eine Erfindung, eine Konstruktion, der heilige Bezirk von Delphi die Fassung des Orts der Epiphanie. 
Ist es gewagt, zu denken, ihr Ursprung hänge den Dingen an? In Delphi wäre hier an die Vorstellung einer Topographie des Numinosen zu denken, das allerorten anwest, in unterschiedlicher Intensität. Der heilige Bezirk, angeordnet um das Zentrum der Erdspalte, über der die Pythia saß, wäre in dieser Topographie eine schlanke Spitze, ein Zuckerhut in einer Hügellandschaft, die zweite bedeutende Erhebung ein tatsächlicher Berg, der nahe Parnaß, Ort des Gottes. Das omnipräsente Numinose erscheint hier somit in zwei exemplarisch voneinander unterschiedenen Formen: dem unbetretbaren Wohnsitz Apolls, präsent und unerreichbar, und dem Tempelbezirk, der den Gläubigen in unmittelbare räumliche Gemeinschaft mit der Offenbarung des Gottes bringt. 

Auf Konfrontiertsein, nicht auf Überwältigung ist die Architektur des heiligen Bezirks in Delphi somit angelegt, auf eine Ahnung des Numinosen und auf das Gewärtigsein der Epiphanie. Nicht von der Hand weisen läßt sich die Vermutung, die Architektur vermöge einen Rest davon noch immer zu vermitteln, auch wenn die Götter längst erloschen sind und ihre Tempel Ruinen.

 

Freilich können diese Ausführungen nichts als Versuche sein, der Empfindung auf die Schliche zu kommen, sich ihr – oder einzelnen ihrer Aspekte – mithilfe der Sprache anzunähern. Denn es scheint im Wesen des Numinosen zu liegen, daß es gleichzeitig anwest und sich entzieht. — »Nah ist / Und schwer zu fassen der Gott.«

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