DER ANSTIEG DES LAGUNENSPIEGELS

wird wohl nicht zum Untergang Venedigs führen. Die Freude über diese Nachricht ist jedoch verfrüht: Für die Zerstörung der Stadt muß man keine globalen Ursachen bemühen – die Region selbst stellt alles, was es braucht, im Überfluß zur Verfügung. Betrachtet man die sich rasant beschleunigenden Einbußen an der Substanz während der letzten Jahrzehnte, ja Jahre, so besteht Grund zur Annahme, die Stadt werde, noch bevor sie die Chance zum Versinken bekommt, verrottet, zernichtet und buchstäblich zerfallen sein.  Zwei Substanzen ist dies zu verdanken: HNO3 und H2SO4 – Salpetersäure und Schwefelsäure also. Zerfrißt diese den Marmor, so läßt jene die Ziegelsteine zerbröckeln.


Der Engel vom Rio Terà über die Jahre
Davide Guiotto (http://guiotto-padova.blogautore.repubblica.it)

Die Gründe für diesen exponentiell beschleunigten Zerfall liegen in Marghera, dem »Herz« der italienischen Chemieindustrie – wo die INO gerade umgebaut und aufgerüstet wird, 45°27’39’’N/12°15’40’’O für den, der die exakten Angaben liebt, sechseinhalb Kilometer Luftlinie vom Markusplatz entfernt.

Und dabei war alles einmal so schön gedacht gewesen. Zum Ende des ottocento, des 19. Jahrhunderts also, wurde nach Wegen gesucht, das in ökonomischer Hinsicht nicht erst seit dem unrühmlichen Ende der serenissima vor sich hin dümpelnde Venedig auf ein gesundes Fundament zu stellen – das Überleben der Stadt also dadurch zu sichern, daß man sie, um einen aktuellen Terminus zu verwenden, zukunftsfähig machen würde. Die Futuristen, die wahren Apostel des Zukunftsglaubens, sollten diese Frage radikal angehen: So nannte etwa Marinetti Venedig die cloaca massima del passatismo und forderte einen modernen Industriehafen anstelle des Canal Grande (die übrigen Kanäle sollten zugeschüttet, die Gondeln durch Elektrotaxis ersetzt werden). Die gemäßigteren, vergleichsweise konservativen Propagandisten der Zukunft hatten indes eher die Förderung von Industrie und Handel im zeitgemäßen Gewand im Sinn, und so wurde also schließlich 1917 ein Viertel des Gebiets von Mestre (damals wie heute zu Venedig gehörig) enteignet, um den nötigen Platz für den modernen Hafen und die ausgedehnten Industrieanlagen Margheras zu schaffen. Auch sollten für die hier Beschäftigten großzügige Arbeiterquartiere entstehen, als ambitionierte, weitläufige Gartenstadt gemäß den sozialreformerischen Vorstellungen Ebenezer Howards – ein Projekt, dem indes knapper Mittel halber alsbald die Luft ausging (einige bemerkenswerte Kirchen der Zwanzigerjahre sind die prominentesten Zeugnisse diese Vorhabens).

Die Zukunfssicherung blieb nicht ohne Erfolg ­– lief jedoch, wie es solche Zukunftspläne an sich zu haben scheinen, ein wenig aus dem Ruder, geriet out of hands, was sich nicht zuletzt daran ablesen läßt, daß heute der industrielle Appendix Mestre/Marghera mit nahezu 300000 Einwohnern etwa das fünffache auf die Waage bringt wie Venedig selbst, daß also die Geschicke der Lagunenstadt von hieraus bestimmt werden, mit ganz unerfreulichen Konsequenzen – und daß auch die Gelder, die aus der geschundenen, dem Untergang preisgegebenen Stadt gepreßt werden, in den düsteren Kanälen der ins Kraut geschossenen sobborghi versickern.

Die Erfolgsgeschichte der Operation Marghera liest sich wie ein Stelldichein der internationalen Großluftverschmutzer – die italienische Wikipedia listet unter dem Stichwort ›Marghera‹ die Namen. Und wird auch behauptet, seit der letzten großen Finanz- & Wirtschaftskrise sei nunmehr der Schwerpunkt hin zu Nachhaltigkeit & Umweltverträglichkeit verschoben: der Augen- & Nasenschein belehrt eines anderen. Tagsüber versetzen einen die fast schon verlorengeglaubten Rauchfahnen der Schlote in eine geradezu wehmütig-nostalgische Laune, des nachts machen sich die Fackeln der Raffinerien durchaus attraktiv, der regelmäßig auf der Lagune hockende turnersche Dunst, fernes Echo des venezianischen sfumato, ist freilich von einem Gelb, das sich nicht mit einem Vergilben des Firnis erklären läßt, und zu jeder Tageszeit legt der die Luft erfüllende leise Schwefeldampf die Vermutung nahe, der Leibhaftige könne nicht allzu fern sein. Nun haben solch industriellen Höllen zweifellos ihren eigenen Charme – eine der frühesten findet sich auf einem kleinen, einst Giorgione, nun dem jungen Tizian zugeschriebenen Gemälde in der Accademia Carrara in Bergamo, Orfeo ed Euridice, und die größte Raffinerie der Welt, in Indien gelegen, wird gelegentlich als zeitgenössisches Äquivalent zum Taj Mahal bezeichnet (und zurecht, sind beide doch ein aufrichtiger und pointierter Ausdruck dessen, was ihre Zeit zu leisten vermag bzw. vermochte) –, doch läßt sich das, was sich hier in Marghera zuträgt, mit der Rhetorik solcher ästhetischen Subtilitäten nicht beschwichtigen.

Blick über den Bacino di San Marco, von San Giorgio Maggiore zum Markusplatz

Fast könnte man es einen tragischen Konflikt nennen, oder auch einen immanenten Zynismus der Geschichte: Einst zur Rettung der Zukunft Venedigs ersonnen, wird nun die Konsequenz der gutgemeinten Unternehmung zum bevorzugten Instrument des Untergangs. Freilich: So ausschließlich der guten Sache verschrieben dürfte die Unternehmung von Anfang an nicht gewesen sein. Denn denjenigen, die auf diesem noblen Feuer ihr unlauteres Süppchen kochten und noch immer kochen, ist doch an wenig anderem gelegen, als ihren satten Reibach zu machen. Das Interesse sitzt da, wo der größte Profit hockt. Looting Venice ist bei 1,5 Mrd. Umsatz pro Jahr durch den Tourismus zweifellos überaus lohnenswert, doch ist dies nur ein Bruchteil dessen, was die Chemieindustrie im Hafen von Marghera erwirtschaftet. Dieses Ungleichgewicht erklärt die geradezu unfaßbare Skrupellosigkeit im Umgang mit der Stadt: Von den Industriekonglomeraten der terraferma aus betrachtet, ist Venedig allenfalls ein hübsches Anhängsel, das man sich hält, solange es noch ein attraktives Zubrot abwirft – oder vielleicht besser: solange man es noch gehörig ausquetschen kann. Auch dies also, wie alles – Nietzsche stellt solches fest – eine Frage der Perspektive und des Standpunkts oder -orts. Letzteres übrigens auch noch in anderer Bedeutung: Die Grundstücke, auf denen die Raffinerie steht, sollen sich angeblich zu beachtlichen Teilen in der Hand eines der ehemaligen Bürgermeister Venedigs befinden – der wie üblich nicht dort, sondern in Mestre gewählt wurde. Blauäugigkeit läßt sich für dies alles nicht ins Feld führen, weder für die Raffinerien, noch für die adipösen Kreuzfahrtschiffe, deren groteske Dimensionen sich fast harmlos-putzig ausnehmen im Verhältnis zu der beängstigenden Menge an Schadstoffen, die sie ausstoßen (HNO3, H2SO4, wir kennen das bereits).

Interessen und Desinteresse geben sich hier ein glückliches Stelldichein – und man fragt sich, ob nicht eine gewisse Boshaftigkeit das ihre dazutut – ein böswilliges Verachten alldessen, was mit dem Anspruch der Kultur zusammenhängt, die ja unleugbar, wenn man sie nicht bloß anthropologisch auffaßt, die Sache einer Elite ist – einer kulturellen Elite als radikalem Gegenentwurf zur politischen und wirtschaftlichen. So wäre der in mancher Hinsicht forcierte, in anderer boshaft oder auch nur achtlos in Kauf genommene Nieder- und baldige Untergang Venedigs wohl auch als Rache derjenigen aufzufassen, die sich der Arbeit der Kultur – die ja im Grunde ein beständiges anstrengendes Arbeiten an sich selber ist – nicht aussetzen wollen und sich der wütenden Lust an der Zerstörung dessen hingeben, was sich den ihnen eigenen, in aller Regel recht ordinären Aneignungsstrategien entzieht. [fb]