unlängst bei der festa del Redentore. Bei diesem Anlaß, der, wie alles in Venedig, die Massen der Touristen anzieht, sind die Venezianer dennoch unter sich. Schieben sich jene in Erwartung des großen Feuerwerks auf Zattere hin und her, stehen sich am Markusplatz die Beine in den Bauch, drängen sich auf der Riva degli Schiavoni, schubsen sich an der Punta della Dogana, quetschen sich über die eigens errichtete Schiffsbrücke hinüber zur Giudecca, so versammeln sich die Venezianer auf dem Wasser. Was immer Zugang zu einem Boot hat – früher hätte man sagen können: Wer immer ein Ruder halten kann – versucht, sich rechtzeitig im Bacino di San Marco oder im Canale della Giudecca einen guten Platz zu sichern, um das mitternächtliche Spektakel aus der rechten Perspektive mitbekommen zu können. Ab dem frühen Abend beginnt die Wasserfläche, sich allmählich zu füllen, und wenn gegen 7 Uhr die Schiffsbrücke zum Redentore geschlossen wird, hat sich schon allerhand zusammengefunden. Üblicherweise verabredet man sich an einem bestimmten Punkt mit Freunden, an deren Boot man dann längsseits festmacht und Anker wirft. So bilden sich längere oder kürzere Reihen miteinander verbundener Boote, was dadurch vereinfacht wird, daß die Fahrzeuge nicht allzusehr voneinander abweichen – für verschiedene Größen und Arten sind jeweils eigene Bezirke bestimmt: für kleinere Fahrzeuge die besten Plätze unmittelbar am Rand der Sperrzone des Feuerwerks, etwas weiter entfernte für größere, andere für Segelboote, für Ruderboote, für Gondeln.
Während es auf dem Wasser immer enger wird, vertreibt man sich auf den Booten die Stunden mit Essen und Trinken – Teller und Platten werden herumgereicht, Weinflaschen machen in der Reihe die Runde. Die am Land haben es weit weniger komfortabel: nicht nur sind die Zugänge beschränkt und streng kontrolliert (im Vorgriff auf die Personenvereinzelungsmaschinen in Form von Drehkreuzen, die demnächst allenthalben in Venedig Einzug halten sollen), es ist auch ab dem frühen Abend im gesamten Stadtgebiet jegliches Gläsernes verboten – ob also Ferrarelle, Friulano oder Ferrari: alles muß in und aus Plastikbehältern und -bechern transportiert und getrunken werden, was die Festfreude doch ästhetisch sehr auf Aspekte beschränkt, die kaum jedermanns Sache sind. Was indes nicht weiter stört, kann man auf diejenigen, die sich daran stören, doch getrost verzichten – es sind immer noch genügend andere da. Dem armen »geflügelten Kater«, wie Goethe den Markuslöwen abfällig titulierte, dürfte ob solchem etwa so zumute sein wie seinem bronzenen Abbild von der Rückseite des Vittorio-Emmanuele-II-Denkmals auf der Riva degli Schiavoni – flügellahm, gefesselt und elend, voll stummen Zorns ob seiner Hilflosigkeit (ein Werk, nebenbei bemerkt, des römischen Bildhauers Ettore Ferrari, auf dessen Konto neben vielem anderem auch das Ovid-Denkmal in Costanza und dasjenige für Giordano Bruno auf dem Campo de’ fiori gehen).
Immerhin einen unverächtlichen Vorzug hat das feste Land unter den Füßen: Es lassen sich hier, wenn vielleicht auch nicht ohne Mühe und Anstehen und nicht ohne Konzessionen an deren Zustand, hin und wieder Toiletten finden, was das Leben dort doch bedeutend unkomplizierter macht als auf dem Wasser, wo man sich entweder mit allerhand Verschämtheiten wie bourdaloues und ähnlichem behelfen oder halt alle Scham fahren lassen muß.
Das Leben auf dem Wasser wird ausgelassener, Canale und Bacino immer voller – nicht viel fehlt, und man könnte von Boot zu Boot springen, von der Piazzetta hinüber nach San Giorgio Maggiore, wie Calvinos barone rampante von Baum zu Baum. Dafür allerdings, daß die Fluchtwege freigehalten werden, wird nicht nur auf dem Land peinlich genau gesorgt: Auf dem Wasser patrouillieren unentwegt die Boote von Polizei und verschiedenen Hilfswerken, um zu verhindern, daß jemand die ausgewiesenen und mittels Bojen markierten esodi di emergenza versperrt (deren Bezeichnungen dem Allied Maritime Signal and Maneuvering Book entnommmen sind, dem Buchstabiervokabular der NATO: Alpha, Bravo, Charlie, Delta, Echo, Foxtrot). Auch ist der Bereich unmittelbar um die Pontons, von denen aus das Feuerwerk abgebrannt wird, streng abgeriegelt; die erweiterte Sicherheitszone, die fast die ganze Fläche zwischen Dogana und Giudecca einnimmt, darf vorläufig noch befahren werden, doch nur mit verminderter Geschwindigkeit. Ab halb 11 wird dann auch hier dichtgemacht, und wer nun noch keinen Platz gefunden hat, für den wird es allmählich eng. Nur innerhalb der einzelnen Bezirke ist jetzt noch ein Fahren möglich, und auch dieses so gut wie ausgeschlossen, ob der drangvollen Enge, die nunmehr herrscht.
Möchte man meinen. Denn obwohl die Ordnungskräfte sich ausschließlich darum kümmern, Sperrzone und Fluchtkorridore freizuhalten und jenseits davon, in den Bezirken also, alles sich selbst überlassen bleibt und von so etwas wie Organisation keine Rede sein kann, im Grunde somit die blanke Anarchie herrscht, ist es doch alles andere als Chaos und Tohuwabohu. Die Kanäle, die zwischen den Bootsreihen freibleiben, werden bei aller drangvollen Enge nie so schmal, daß nicht noch ein Boot durchkäme, die Radien der teils recht scharfen Wendungen nie so, daß sich nicht noch manövrieren ließe. Dabei ist keiner da, der sich irgend um die Sache kümmerte – mag es also ein hoch entwickelter spezifisch venezianischer mariner Gemeinsinn, mag es ein Naturgesetz sein: Das labyrinthische Gewirr aus Fahrgassen und Bootsclustern organisiert sich von selbst, wobei die Sache noch dadurch kompliziert wird, daß die Reihen der Boote, obzwar verankert, durch die überall herrschende leichte Strömung sich ständig fast unmerklich gegeneinander verschieben. Dennoch scheint alles reibungslos zu funktionieren, und es macht niemals den Eindruck, es drohe ein Infarkt – ja es sind nicht einmal nennenswerte Stauungen zu beobachten. Dabei herrscht bis kurz vor Beginn des Feuerwerks eine halbe Stunde vor Mitternacht noch reger Verkehr. Gruppen von vittelloni in schnittigen Rennmaschinen paradieren und demonstrieren ein überraschend differenziertes Repertoire unterschiedlichen Motorenlärms, weißhaarige Salonlöwen führen ihr Riva-Boot samt der zugehörigen aufgetakelten Frau vor, soignierte Herren lassen sich in schwimmenden Limousinen chauffieren, die so gepflegt und beinahe so alt sind wie sie selber, Gruppen von Amerikanern in Kajaks halten sich für eine Bereicherung der Szenerie. Nach einiger Zeit kennt man sie alle, können sie doch bloß beschränkte Runden drehen im abgeschotteten Gewirr und kommen so mit verläßlicher Regelmäßigkeit immer wieder vorbei. Tragen Sorge, daß ihr Können auch bemerkt und angemessen bewundert wird, wobei es offenbar der Gipfel der Kunstfertigkeit ist, das Labyrinth im Rückwärtsgang zu meistern. Kollisionen sind aber so gut wie nie zu beobachten.
Naht sich der Beginn des Feuerwerks, kommt alles zur Ruhe. Kaum ist dieses jedoch beendet, bricht hektische Betriebsamkeit aus: Die Anker werden eingeholt, die teils arg verschlungenen Ketten und Taue entwirrt, und alles gerät in Bewegung. Die spontan zustandegekommenen ephemeren Strukturen zerfallen, die Fahrzeuge sind aus ihren Verbänden gelöst, die Kanäle verschwunden. Doch entflicht sich auch dieses Durcheinander rasch und reibungslos, und der Abzug der Tausenden von Booten vollzieht sich, wenn wohl auch nicht wirklich diszipliniert, ohne alle Probleme. Eine dem transalpinen Denken fremde Vorstellung von Ordnung scheint sich hier zu zeigen, eine pragmatische Flexibilität, ein beständiges gleitendes Abgleichen des Regelwerks mit den Gegebenheiten. Man kann darüber spekulieren, ob es vielleicht genau diese Haltung sei, der sich auch das Zustandekommen der planlosen oder doch zumindest ungeplanten spontanen Ordnung auf dem Wasser verdankt, oder ob sich hier eine der Anarchie innewohnende Gesetzmäßigkeit zeigt, gemäß der eine pragmatische Minimalordnung sich etabliert oder sogar etablieren muß – wobei sich rasch der Verdacht einstellt, dies möchten wohl die beiden Seiten einundderselben Medaille sein. Mit einem Mathematiker wie Horst Rittel würde man sich darüber unterhalten wollen, wozu allerdings eine Séance vonnöten wäre.