Eine merkwürdige Art von Gnade

Die an der Donau gelegene niederbayrische Provinzstadt Deggendorf, von der es im Dehio (Handwörterbuch der deutschen Kunstdenkmäler, Bayern II, München 1988) heißt, sie habe sich von ihrem Fluß getrennt, besaß einst mit der alljährlich veranstalteten ›Gnad‹ eine bedeutende Wallfahrt – bis zu 140 000 Pilger sollen vom 29. September bis zum 4. Oktober in die Stadt gekommen sein, was nicht nur zu deren Ruhm beitrug, sondern auch zur wirtschaftlichen Prosperität.
Es handelte sich um eine der in Bayern außerordentlich beliebten eucharistischen Wallfahrten, und der Anlaß und das mit ihm verbundene Wunder waren wie folgt: Zur Osterzeit 1337 brachten die Deggendorfer Juden eine christliche Magd dazu, zehnmal die Kommunion zu nehmen, den Leib des Herrn aber nicht zu schlucken, sondern die Hostien in ihrem Busentuch verborgen aus der Kirche zu schmuggeln. Im Austausch gegen ein vepfändetes Kleid erhielten die Juden dann die zehn geweihten Brote, um sie sogleich mittels allerhand Peinigungen zu schänden: stachen sie mit einer Ahle, bis sie bluteten, kratzten sie mit Dornen, legten sie auf einen Amboß und schlugen sie aufs heftigste mit Hämmern, sperrten sie in einen heißen Backofen und wollten sie, als solch schändlichem Tun der Erfolg versagt blieb, gar verschlingen, was ihnen aber auch nicht gelang. Es soll, heißt es in der Legende, während dieser Untaten mehrmals die Gestalt eines Kindleins erschienen sein. Schließlich warfen die Juden die Hostien in einen Brunnen, den sie zu allem Überfluß noch vergifteten, sodaß viele Christen starben. Die Hostien blieben jedoch nicht lange verborgen: Ein Nachtwächter wurde eines wundersamen Lichtscheins gewahr, der aus dem Brunnen drang, und dazu ließ sich eine rührend klägliche Stimme vernehmen. Schließlich erhob der Leib Christi in seiner Zehnfältigkeit (von einem verzehnfachten Leib des Herrn wird man ja kaum sprechen können) sich von selbst aus dem Wasser und konnte von einem jungen, eben erst geweihten Priester geborgen werden. Die Bürger Deggendorfs schworen daraufhin einstimmig einen heiligen Eid, die Juden allesamt zu ermorden und auf ewig aus ihrer Stadt zu verbannen, was sie denn auch ohne Verzug in die Tat umsetzten. An der Stelle, wo die Synagoge gestanden hatte, also an prominentem Ort mitten in der Stadt, wurde in der Folge die Wallfahrtskirche zum Hl. Grab Christi erbaut.
Kaum nötig, zu erwähnen, daß an dieser Geschichte nichts wahr ist, außer der Ausrottung der Deggendorfer Judenschaft – der Hintergrund ist ein ganz anderer und klingt allenfalls im Motiv des verpfändeten Gewandes leise an. Die Deggendorfer waren bei ihren Juden hoch verschuldet, wohl infolge der einer verheerenden Heuschreckenplage geschuldeten Mißernte des Jahres 1338, und sie lösten ihr finanzielles (und vielleicht tatsächlich existenzbedrohendes) Problem durch ein Pogrom – das dann nicht auf Deggendorf beschränkt bleiben sollte, sondern rasch ganz Niederbayern erfaßte. Binnen weniger Jahrzehnte hatte sich dann die erbauliche Version des Judenmordens durchgesetzt, mit zweifachem Gewinn: Die Untat war in eine gottgefällige Handlung umgemünzt und die Wallfahrt gegründet worden, die der Stadt zu Ansehen und Wohlstand verhelfen sollte.
Mehreres ist an dieser Geschichte denkwürdig. Zunächst escheint es uns heute nur schwer vorstellbar, daß eine derart krude, dazu noch so löchrig gestrickte und in sich ganz und gar unstimmige Legende dazu getaugt haben kann, tatsächlich über die Jahrhundedrte für wahr gehalten zu werden – was jedoch bei kurzem Nachdenken weniger erstaunt, nicht zuletzt, wenn man an all den womöglich noch viel abstrusen Unfug denkt, der verbreitet in den Köpfen unserer Zeitgenossen spukt. Denkwürdig ist auch, daß ein tatsächliches Verbrechen durch die Fiktion eines anderen, nicht weniger grausamen und nicht weniger offensichtlichen, erfolgreich in sein Gegenteil verkehrt werden konnte. Doch mag hier der Mechanismus ein durchaus simpler sein: Es wird zur Beschönigung der eigenen Gräuel den Opfern das größte aller denkbaren Verbrechen unterstellt, der Gottesmord (auch wenn es beim Versuch bleiben mußte), der ja keinesfalls ungesühnt bleiben kann und unabdingbar die Bestrafung durch den Herrn selbst nach sich ziehen muß. Daß jedoch kein Blitz die Hostienschänder niederstreckte, macht die Deggendorfer Judenmörder zu den von Gott bestimmten Vollstreckern seiner Strafe, Heroen des Glaubens, handelnd gemäß seinem Willen.
Nun, die Sache war erfolgreich, und die fromme Legende wurde jahrhundertelang für die Wahrheit genommen – und sie war ja auch, so plump sie daherkommen mochte, nicht ohne propagandistisches Geschick eingefädelt worden, sicherte sie doch ihre Glaubwürdigkeit durch ein beachtliches Aufgebot an populären Stereotypen. Ihren Höhepunkt hatte die Wallfahrt im 18. Jahrhundert, und erst in der Folge der Aufklärung regte sich zaghafte Kritik, die aber keine nennenswerten Kosequenzen nach sich zog. Ein Schreiben des Regensburger Bischofs Senestrey, das 1868 anläßlich der Kirchenrestaurierung empfahl, den Bau künstlerisch wie ideell von allen nebensächlichen Zutaten zu befreien, muß sich nicht notwendigerweise als eine Aufforderung zur Abkehr von den althergebrachten Gepflogenheiten auffassen lassen, zumal die Haltung der katholischen Kirche in den folgenden hundert Jahren eher die eines zähen Festhaltens am alten Brauch und an der Entstehungslegende gekennzeichnet war. Erst als nach dem Zweiten Weltkrieg die Kritik zugenommen hatte und offen antisemitische Positionen nicht mehr salonfähig waren, sah der neuberufene Bischof Graber sich veranlaßt, anläßlich der Eröffnung der Wallfahrt 1962 die Judenverfolgungen zu verurteilen, argumentierte jedoch, es gehe bei der noch immer sehr populären ›Gnad‹ um etwas ganz anderes, nämlich um die Verehrung der Eucharistie, und nie und nimmer dürfe sie somit aufgegeben werden. Weitere dreißig Jahre sollte es noch dauern, bis die Wallfahrt schließlich eingestellt wurde – der überkommene Antisemitismus war ihr einfach nicht auszutreiben gewesen. Jetzt muß er sich andere Formen suchen.

Quellen:
Georg Dehio, Handwörterbuch der deutschen Kunstdenkmäler, Bayern II, München 1988.
Manfred Eder, Wallfahrten, eucharistische, publiziert am 22.02.2010; in: Historisches Lexikon Bayerns, URL: <http://www.historisches-lexikon-bayerns.de/Lexikon/Wallfahrten,_eucharistische>(16.05.2019).
https://de.wikipedia.org/wiki/Deggendorfer_Gnad.