GEISELHAFTEN II

Nicht nur Casanova wird hier in Schuldhaft gehalten (s. Beitrag vom 27. März): In Sichtweite der INO, einen Steinwurf nur entfernt, ist die ›Oslo‹ festgemacht, ein Schüttgutfrachter mit 225 Metern Länge und 38835 Bruttoregistertonnen. Zwecks Eintreibung unbezahlter Rechnungen, die sich schließlich mit Zinsen und Gebühren auf eine knappe halbe Million US-Dollar beliefen, wurde sie im Frühjahr 2016 auf Betreiben eines griechischen Treibstofflieferanten sequestriert, lag vor Malamocco einen guten Monat lang mit einer Ladung brasilianischer Sojabohnen vor Anker und durfte schließlich am 5. Mai im Canale industriale Nord in Porto Marghera an einer verlassenen Mole anlegen. Die Sache zog sich hin, und scheint sich immer noch zu ziehen – die tatsächlichen Besitzverhältnisse der Oslo sind recht undurchsichtig und stellen sich dem mit den internationalen Verstrickungen der Branche Unvertrauten einigermaßen dubios dar. Verantwortlich für das operative Geschäft des unter der Flagge von Panama fahrenden Frachters zeichnet die in Thessaloniki ansässige DST Shipping Inc., der registrierte Besitzer ist eine Atlantic Panamax 2 AS mit Sitz in Oslo, der wirtschaftliche Eigner eine Firma namens Fearnley Business Management, ebenfalls in Oslo beheimatet. Fearnley allerdings behauptet, die Oslo gehöre nicht zu ihrer Flotte: »It is not one of ours«. Fälle dieser Art scheinen nicht so ungewöhnlich zu sein, und es ist mehr als wahrscheinlich, daß solche Konstruktionen erdacht werden, um die Gewinne abzuschöpfen, im Fall von größeren Schäden oder Verbindlichkeiten sich jedoch aus der Verantwortung schleichen zu können. Im Gewirr der globalisierten Verhältnisse scheint dies nicht besonders schwierig zu sein. Ein gewichtiges Problem stellt es für die jeweiligen Schiffsbesatzungen dar, die mit den Schiffen zusammen festliegen. Als Gestrandete kann man sie nur im metaphorischen Sinn bezeichnen, ist es ihnen in Ermangelung der notwendigen Papiere ja in den meisten Fällen nicht erlaubt, einen Fuß an Land zu setzen und werden die Einwanderungsbestimmungen in solchen Fällen sehr streng gehandhabt. Allerhand diplomatische Bemühungen sind dann zumeist vonnöten, um die Betroffenen zurück in ihre Heimatländer holen zu können. Für ein unkompliziertes und rasches Vorgehen scheint es keine etablierten Regeln zu geben, was einigermaßen erstaunt, da solche Vorfälle ja nicht eben selten sind – die IMO (International Maritime Organization, eine Organisation der Vereinten Nationen) listet für die letzten 13 Jahre 273 Fälle auf, in denen Schiffe und Mannschaften von ihren Reedereien im Stich gelassen wurden, mit steigender Tendenz. Die Reeder zu belangen, erweist sich als schwierig, trotz aller Anstrengungen, die in jüngster Zeit unternommen wurden. Im Fall der Oslo ist nun nicht auszuschließen, daß die Mannschaft ganz bewußt ins Kalkül einbezogen wurde, daß also Schiff und Besatzung zusammen in Geiselhaft genommen wurden – »the vessel and the crew are being kept host­age«, wird eine angeblich wohlinformierte Quelle verschiedentlich zitiert. Für die 18 Filippinos an Bord bedeutete dies einen weiteren Monat des Eingesperrtseins und eine dramatische Zuspitzung der Lage: Am 26. Mai gingen die Treibstoffvorräte zuende, und es konnten die Generatoren nicht mehr betrieben werden. Der Strom fiel aus, somit auch Beleuchtung, Belüftung, Wasserversorgung, Kühlsysteme – die Lebensumstände an Bord müssen unerträglich geworden sein. Was die Nahrungsmittel betrifft, sind die Aussagen uneinheitlich: Nach einigen Quellen verfügte das Schiff über Vorräte für ein Vierteljahr, nach anderen sei die Besatzung auf die Versorgung durch die lokale Lotsenzunft und die in Venedig ansässige wohltätige Organisation Stella Maris Friends angewiesen gewesen, auch, was die Versorgung mit Medikamenten betraf. Bevor es jedoch zum Schlimmsten kam, wurde die Mannschaft in die Heimat geflogen, am 1. Juni 2016. Die Oslo allerdings blieb in Marghera, verlassen und stillgelegt – a dead ship, wie der nautische Fachausdruck lautet.

So lernten wir sie kennen, als wir drei Tage später, am 4. Juni, mit der INO hier festmachten (die damals noch ›1905‹ hieß). Ein Jahr verging, ohne daß sich sichtbar etwas getan häte. Seit einigen Tagen jedoch sendet sie wieder eine dünne Rauch- oder genauer gesagt Rußfahne in die trügerische Reinheit der margherischen Himmelsbläue, und eine Inspektion aus der Nähe zeigt nicht nur diverse gestandene Männer in orangefarbenen Overalls, von der Sorte, mit der man Händel wohl besser vermeidet, sondern auch einen neuen Namen: ›Vika‹ steht nun da, wo früher ›DST Oslo‹ zu lesen war, in offensichtlich ziemlich hurtig ausgeführten Lettern, die ihren Urheber nicht eben als Meister der Kalligraphie ausweisen, und als Heimathafen ist Majuro angegeben – sie fährt also jetzt unter der Flagge der Marshallinseln. Nicht zum ersten Mal, wie sich herausstellt, wenn man die IMO-Nummer 9207326 verfolgt (sie bleibt immer dieselbe, was auch immer mit dem Schiff sonst geschieht): 1999 im japanischen Yokosuka vom Stapel gelaufen, war sie zunächst unter dem Namen ›Seamaid‹ in Panama registriert, fuhr dann ab 2006 als ›Lilian Z‹ für eine griechische Reederei, eben unter der Flagge der Marshallinseln, ein paar Jahre später schließlich als ›Oslo‹, abermals für Panama, bis sie vor wenigen Tagen halt in ›Vika‹ umgetauft wurde. Als landlubber darf einem solches ruhig einigermaßen dubios vorkommen.