I. 18 Jahre lang, von 1988 bis 2006, lebte der Iraner Mehran Karimi Nasseri auf dem Pariser Flughafen Charles de Gaulle, nachdem ihm auf der Reise von Frankreich nach England die Papiere gestohlen worden waren, Großbritannien ihn daher nach Paris zurückschickte, wo man ihm aber die Einreise verweigerte. Abgeschoben konnte er mangels Papieren nicht werden, und so richtete er sich im Terminal 1 des Flughafens ein, das zu verlassen er sich auch später, als sich Möglichkeiten boten, standhaft weigerte – ein absurder Nomade, der sich im Transitorischen seinen festen Ort einrichtete. (Es existieren abweichende Versionen der Geschichte.) Heute soll er in einer Pariser Obdachlosenunterkunft untergekommen sein. Spielberg diente dies als Vorlage für seinen Film »Transit« (2004, mit Tom Hanks in der Hauptrolle); $ 275000.- bekam Nasseri dafür.
II. Nach vorsichtigen Schätzungen wohnen bis zu 200 Menschen in den Abfertigungshallen, Warteräumen und Einkaufszentren des Frankfurter Flughafens, 50 bis 60 von ihnen verlassen ihn nie, und das häufig über Jahre – Obdachlose, die hier nicht nur ein vergleichsweise sicheres Unter-, sondern sogar ein bescheidenes Auskommen finden (sie sichern ihren Lebensunterhalt in der Regel durch das Sammeln von Pfandflaschen).
Es leben überraschend viele Menschen in Flughäfen, eine andere Art von Gestrandeten als Nasseri, und weit weniger spektakulär, ja in aller Regel bestrebt, so wenig wie möglich auf sich aufmerksam zu machen in der Anonymität dieser geschützten Öffentlichkeit des Transits, die sich durch eine merkwürdige gedämpfte Hast auszeichnet, eine zähflüssige, stockende Unrast. Einfach ist es hier, als Wohnsitzloser unbemerkt zu bleiben: Keiner fällt auf, der seinen Besitz mit sich herumträgt, niemand fällt aus dem Rahmen, der sein müdes Haupt vor aller Augen zum Schlafe bettet. Mit größeren Gefahren ist in diesen lückenlos überwachten Räumen nicht zu rechnen, und die Betreibergesellschaft, der dieses Schattenleben nicht verborgen bleibt, drückt ein Auge zu, solange es keinen Ärger gibt. Eine Sozialarbeiterin ist eigens zur Betreuung abgestellt worden. Besser als unter den Brücken lebt es sich hier also allemal.
III. Der Ort Malcontenta, am Rand des Industriegebiets von Marghera am Brentakanal gelegen, verdanke, so heißt es, seinen Namen einer von Palladio hier gegen 1560 erbauten Villa, deren Beiname ›La Malcontenta‹ auf eine hierher wegen ehelicher Untreue verbannte Dame aus der Familie Foscari weise, die mit diesem Schicksal verständlicherweise nicht zufrieden gewesen sei. So romantisch dies sich anhört, so falsch ist es: Seinen Namen hatte der Ort lange vorher erhalten, als sich nämlich hier der Unmut über die 1431 von der Republik Venedig angeordnete Grabung eines neuen Bettes für den Brenta Ausdruck verschafft hatte. Unweit der Villa ist ein Vaporetto festgemacht, ein altes Stück aus den 30er Jahren, der hier, an einer Stelle, die auf den ersten Blick einen recht romantischen Eindruck bietet, unter schattenspendenden Bäumen vor sich hin rottet. Bewohnt wird dieses herrenlose Vehikel von einem aus Venedig stammenden Paar, Paola und Germano Marella, die sich vor vier Jahren hier einrichteten, nachdem ihnen die Gemeinde Mira keine Unterkunft zur Verfügung stellen konnte oder wollte. Die obdachlose Familie lebt von monatlich 600 Euro, die Paola als Hilfskraft in einer Schule verdient. Die Lage spitzte sich unlängst zu, als der schwerbehinderte 18jährige Sohn aus stationärer Behandlung entlassen wurde und nun als Dritter den Vaporetto bewohnt. [fb]