Seltsame Trouvaillen, kuriose Koinzidenzen! Lange bevor die INO ihre europäische Entdeckungsfahrt beginnt, jetzt also, wo sie noch aufgebockt an den, oder besser auf den Gestaden Margheras hockt, am Rande eines Kanals nämlich, der nichts mit den canali, rii, fondamente und rive Venedigs zu tun hat, und noch dazu in einem Areal, das die untergegangenen Industrien widerspiegelt wie das untergehende Venedig untergegangene Größe, wirft die Reise schon einen Schatten voraus, resp. es lohnen die zuständigen Genien schon einmal die Mühen des Festlands und die sich hinziehenden Reisevorbereitungen durch einen großzügigen Vorschuß, der für die Zukunft allerhand zu versprechen scheint.
Das Gelände, wo die INO zu- und ausgerüstet wird, mit seinen zerfallenden Parabolhallen, stillgelegten Zementsilos, Bisamratten und toten Tauben, rostenden Öltanks, abgewrackten Booten und den sich hier in undurchschaubaren Intervallen ereignenden rätselhaften Aktivitäten, ist von einer anachronistischen Romantik – pittoreskes Pathos der Ruinen einer Welt, der das Schöne nicht mehr als Ziel taugt, vor dem Panorama der das Erhabene streifenden Schönheit von Großraffinerien im abendlichen Zwielicht – rätselhafter als etwa das nahe Venedig, das von hier aus, wo alles sich ihm verdankt, in merkwürdig blasse Ferne gerückt scheint und wohl aus genau dieser Distanz seine erfolgreich abgeschlossene Banalisierung und Marginalisierung deutlicher als von jedem andere Ort aus vor Augen führt.
In einer solchen ›Zone‹ (ein wenig erinnert die Liegenschaft hier nämlich an Tarkovskis »Stalker« – und ist nicht tatsächlich die Verheißung der INO die eines Wunscherfüllungsraums, oder eine Wunscherfüllungsmaschine?) wird man sich auf allerhand Entdeckungen, wenn nicht gar Erscheinungen gefaßt machen dürfen, und wirklich kommt hier ein Venezianer zum Vorschein, dessen Ruf aus langverwehten Zeiten herüberhallt – wieviele Welten mögen seitdem untergegangen sein? – und dessen Leben wie die Illustration von Talleyrands berühmtem nostalgischem Diktum scheint: Celui qui n’a pas vécu au dix-huitième siècle avant la Révolution ne connaît pas la douceur de vivre et ne peut imaginer ce qu’il peut y avoir de bonheur dans la vie. C’est le siècle qui a forgé toutes les armes victorieuses contre cet insaisissable adversaire qu’on appelle l’ennui. L’Amour, la Poésie, la Musique, le Théâtre, la Peinture, l’Architecture, la Cour, les Salons, les Parcs et les Jardins, la Gastronomie, les Lettres, les Arts, les Sciences, tout concourait à la satisfaction des appétits physiques, intellectuels et même moraux, au raffinement de toutes les voluptés, de toutes les élégances et de tous les plaisirs.
Fabio Fabbi, Casanovas Zelle in den Bleikammern, 1920
Der vielleicht berühmteste aller Venezianer, Giacomo Casanova, ist hier gemeint, der selbsternannte Marquis de Seingalt, Prototyp des heimatlosen Europäers des settecento – über den es entweder nichts oder sehr viel zu sagen gibt, zumindest aber das, daß Fellini ihn für unfähig hielt, den Wert der Dinge zu erkennen und der Meinung war, er habe nur aus in den verschiedenen Umständen gespiegelten Bildern seiner selbst bestanden. So wäre er denn ein Vehikel der Wahrnehmung, wie die INO?
Wie dem auch immer sei – der brillante Windbeutel und berühmteste Gefangene der serenissima, der seinen Ruhm zu Lebzeiten der Flucht aus den Bleikammern verdankte und der, was ja nur wenigen gelingt, sich eines Fort- oder Nachlebens als Metapher, wenn nicht gar als einer Idee erfreuen darf (ein platonischer Casanova?!), er befindet sich hier auf dem Areal, in einer der weitläufigen, dem Zerfall preisgegebenen Hallen, in Gestalt seines Denkmals – Tonnen Granit, einige Zentner Bronze – und er wird in Geiselhaft gehalten, ob unbezahlter Rechnungen. Das ist nun eine denkwürdige Ironie, waren ihm doch vergleichbare Kalamitäten während seines aktiven Lebens als Glücksritter und Hasardeur zu wiederholten Malen widerfahren – doch kann er in diesem Fall nichts dafür, geht es doch lediglich um eine für den Außenstehenden so undurchschaubare wie im Grunde uninteressante Geschichte, in die ein etwas dubioser Auftraggeber (russischer Oligarch), ein nicht weniger fragwürdiger Bildhauer (gleichfalls Russe) und ein um sein Honorar geprellter venezianischer ingegniere verstrickt sind. Besagtes Kunst- oder vielleicht besser Machwerk, das es immerhin während des Karnevals 1998 zu einem kurzen Gastspiel auf dem Markusplatz gebracht hat, fristet nun also sein Dasein in der prosaischen Wirklichkeit Margheras, zerlegt, in romantisch-wirrer Unordnung tatsächlich einen unbeabsichtigten und vielleicht unangebrachten Charme aufweisend, der fern jeglicher Intention von sowohl Künstler als auch Auftraggeber auf eine unvermeidbare Wahrheit zu verweisen imstande ist, wenn der Betrachter, der sich ob der Unverhohlenheit des Betrachteten – das Kunstwerk zeigt sich hier doch so recht en négligé – immer ein wenig als Voyeur vorkommen muß, sich solchen Gedanken denn überlassen will. Die Zukunft der Gruppe ist ungewiß, führten die Verhandlungen und Ultimaten doch bisher zu keinem irgend brauchbaren Resultat: keinem der Beteiligten scheint, jenseits der recht verworrenen, pekuniäen Aspekte an der Sache selbst (sollte diese denn in etwas anderem bestehen) etwas gelegen zu sein.
Und zurecht, ist doch die eigentliche und wahre Geiselhaft ja nicht die des Denkmals in den verrottenden Hallen Margheras, sondern diejenige Casanovas in der abgrundtiefen Häßlichkeit, der boshaften Banalität des inferioren Machwerks. [fb]
Eine Antwort auf „IL CASANOVA INCARCERATO“
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