Jürgen Wertheimer: Was macht die Eigenart Europas aus?

Die Diskussion um Europa tritt auf der Stelle. Die einen sehen den Kontinent als in sich zerfallendes Konglomerat aus einzelnen Bestandteilen, die kaum etwas miteinander zu tun haben, die anderen beschwören wieder und wieder die Idee eines gemeinsamen Hauses Europa. Diese verweisen auf höchst unterschiedliche historische und politische Erfahrungen des gespaltenen Kontinents, auf das totalitäre Erbe vieler Regionen, auf die Spätfolgen der Kolonialgeschichte. Jene beschwören den inneren Zusammenhalt auf der Grundlage »europäischer Werte«.
Wieder andere entwerfen Strategiepapiere, um der Krise zwischen Defaitismus und Vision zu entkommen, sprechen von der EU als dem »zentralen Ort« für Konfliktbewältigung und die Erarbeitung auch »global anwendbarer« Lösungen. Dies alles ändert nichts an der konzeptionellen Pattsituation, in der wir uns befinden – all das Lavieren ist eher Ausdruck der Krise denn Mittel, sie zu überwinden.
Wir müssen dringend über uns selbst nachdenken, bevor wir damit fortfahren, für andere denken zu wollen. Wir müssen danach fragen, was die wirklichen Eigen-Arten des Systems Europa sind. Und ob es vielleicht nicht auch ein ganz anderes, verborgenes, in seiner Wertigkeit noch weitgehend unentdecktes Europa gibt. Ein Europa jenseits der üblichen Schlagworte und plakativen »Werte« republikanischer oder christlich abendländischer, klassischer oder fortschrittsgläubiger Natur. Ja, ob es überhaupt ein Europa, ein Europa gibt – die japanisch-deutsche Autorin Yoko Tawada stellt diese Frage auf die ihr eigene fröhlich hintergründige Art immer wieder und völlig zu Recht.

Ein liquider Verbund

Man weiss ja nicht einmal, ob es sich um ein geopolitisches Gebilde handelt oder um das Projekt eines besonderen Stils der Governance – demokratisch, republikanisch oder egalitär? Steht der Begriff Europa für einen speziellen Typus der Wissensgesellschaft, oder ist er Chiffre für religiös grundierte Werte? Oder ist es primär ein plurilinguales oder plurikulturelles Gewebe, eine Art Textur aus Nuancen? Sicher ist, dass es weltweit kaum einen zweiten Raum gibt, auf dem sich innerhalb kleinster Entfernungen von zum Teil nur zwei- oder dreihundert Kilometern so viele unterschiedliche Kulturen her­ausgebildet haben wie in Europa. Nirgends sonst stösst man auf eine solch kleinräumige Vielfalt kultureller Zonen, die sich – aller Differenz zum Trotz – dennoch bis zu einem gewissen Grad als zusammengehörig empfinden.
Eine Zusammengehörigkeit, deren Reichweite und Intensität einem permanenten Wandel ausgesetzt ist. Denn dieses Etwas, das sich Europa nennt, ändert selbst seinen Umriss wie eine gigantische geografische Amöbe. Mal leckt die Zunge Europas an Sibirien, dann wieder zuckt sie zurück und reicht nur bis zum Ural oder zur Oder-Neisse-Grenze. Es gab Zeiten, da erreichte Europa den gesamten Mittelmeerraum einschliesslich Nordafrikas – gegenwärtig schotten wir die Aussengrenzen genau davor ängstlich ab. Das spätantike Europa umfasste den byzantinischen Raum – dann wieder war in Wien Schluss.
Die Kontur Europas verändert sich fortwährend und ist nie auf einen Zustand fixierbar. Ständig galt und gilt es, neue Regelwerke zwischen den einzelnen Modulen zu ersinnen, Membranen zwischen ihnen aufzulösen oder zu verstärken. Kurz: Europa ist ein liquider Verbund, ein Biotop der Überlagerungen – und alles andere als ein Normierungskartell.

Zentral ist: Kommunikation

Dazu ein Verband ohne Zentrum. Weder Strassburg noch Brüssel sind als Zentren zu betrachten, allenfalls als Verwaltungszentralen. Selbst das britische Empire hatte ebenso wenig wie das k. u. k. Reich ein absolutes Zentrum, das die Kräfte zentripetal band. London und Wien, Paris und Berlin waren immer nur Zentren auf Abruf. Europa war immer, und auch und gerade in seinen Blütezeiten, ein Geflecht aus Regionen und Peripherien ohne eigentliche Mitte, ein frei flottierender Verband.
All dies mag irritierend klingen – doch letztlich handelt es sich um eine ausserordentlich kreative Versuchsanordnung, die das expansive Erbe Europas ein Stück weit erklären mag. Denn im Grunde war und ist Europa eine einzige auf Dauer gestellte Transitzone. Ein sich permanent wandelndes, sich verwandelndes, Chamäleon-artiges, extrem facettenreiches Geflecht aus Möglichkeiten. Dies mag eine mögliche Erklärung für einige der auffälligen Signaturen sein, die Europa charakterisieren. Denn eines war und ist für den Kontinent aus Ambivalenzen und Grauzonen, Zwischentönen und Vermischungen wichtiger als alles andere: Kommunikation!
Lebensformen, die immer wieder auf Ähnliches, oft Gleiches stossen, sind nicht gezwungen, sich selbst infrage zu stellen. Solchen jedoch, die sich an allen Ecken und Enden mit Neuem, Unbekanntem, Fremdem konfrontiert sehen, bleibt keine andere Wahl, als sich mit dem anderen vertraut zu machen oder ihm zu misstrauen und sich davon abzugrenzen oder Kontakt zu suchen. Gemeinsamkeit und Zugehörigkeit immer neu zu definieren und einen komplizierten Modus des Zusammenlebens unter besonderen Bedingungen zu ersinnen. Kurz: Qualitäten zu schulen, Fertigkeiten zu erlernen, die anderswo nicht oder jedenfalls nicht in dem Masse nötig sind.

Fünf Spezialitäten

Zu den wirklich unveräusserlichen und historisch beglaubigten Prämissen des europäischen Systems gehören nicht »Werte« (die auch andere Kulturen zu Recht für sich beanspruchen könnten), sondern ein sehr spezieller Stil, mit Werten umzugehen. Dazu zählen unter anderem:
Ein elaborierter Code, unterschiedliche Wertesysteme auf Ähnlichkeiten, Gemeinsamkeiten, Unterschiede und Inkompatibilitäten hin zu befragen. Wir lavieren ständig zwischen dem Eigen-artigen, dem mit »uns« Unvereinbaren und dem unvermutet Ähnlichen – sind Experten des Grenzgangs und überschreiten dabei ständig auch rote Linien.
Ein profundes Wissen über die Gleichwertigkeit aller möglichen Lebensformen. Man kann es »Inklusion« nennen oder auch »Relativismus« – wichtig ist es, diese Fähigkeit als Qualität, nicht als Defizit verstehen zu lernen.
Skepsis gegenüber vereinnahmenden Mythen und Zugehörigkeitszuschreibungen jedweder Couleur. Diese Skepsis ist teuer und schmerzhaft erkauft und in jedem Moment gefährdet – dennoch, als Grundgefühl ist sie vorhanden und möglicherweise aktivierbar.
Ein hoch entwickeltes Dialogmodell, innerhalb dessen Vielstimmigkeit, Widerspruch und Widersprüchlichkeit systematisch praktiziert und eingeübt werden. Dialoge wie jene von Denis Diderot, in denen ein Aufklärer seine Antipoden in Szene setzt, wird man vergeblich anderswo suchen, und es ist kein Zufall, dass Goethe und Hegel Diderot liebten.
Und nicht zuletzt eine gut zweitausendjährige Schulung in der Kunst kritischen Denkens. Europa war in seinen besten Zeiten ein offener Verhandlungsraum, eine argumentative Freihandelszone, innerhalb deren alles kontrovers verhandelt wurde und verhandelt werden musste. Eine These ohne eine zumindest gleich starke Gegenthese ist schlicht unglaubwürdig.

Romane und Dramen

Es gilt, dieses europäische Grundgefühl, diese kommunikativen Techniken zu stärken, zu ermutigen, zu vermitteln. Erst nach diesem umfassenden Selbstreflexionsprozess sollten wir darüber entscheiden, ob es uns zusteht, global zu intervenieren.
Sucht man auf diesem Weg nach Orientierung, findet man sie nicht nur in humanistischen Schriften und philosophischen Traktaten, sondern auch an vielleicht unerwarteter Stelle – in der Literatur, dem Sprache gewordenen Fingerabdruck des Denkens und Empfindens ganzer Kollektive. Es kann jedenfalls kein Zufall sein, dass zwei Erscheinungsformen, zwei Genres der Literatur sich hier und nirgend anderswo ausbildeten: der Roman und das Drama.
Der Roman als polyfones, vielstimmiges, perspektivenreiches grossformatiges Erzählgebilde mit offenem Ende und das Drama als erregende Widerspruchsmaschine voller Energien und Emotionen. Europa produzierte und absorbierte solche Szenarien der Mehrstimmigkeit wie kaum eine zweite Kulturlandschaft: süchtig nach literarischen Stimulanzien als Gegenwelten zu dogmatischen, sakralen oder politischen Diskursen.
Europa, die Idee Europa, ist Inkarnation eines langfristigen, nachhaltigen Aufklärungs- und Säkularisierungsprozesses – laut Paul Veyne glaubten schon die Griechen nicht an ihre eigenen Mythen, und die Art, wie wir uns der Narrative aus fremden Räumen bedient haben und sie verwandelten, ist eindrucksvoll. Wenn wir uns wirklich zu einer Art »Leitidee« versteigen sollten, dann wäre es weitaus plausibler und realitätsnäher, sich an der Weisheit und den Erkenntnissen der Tausenden von Geschichten zu orientieren als an abstrakten Entwürfen und Wunschgebilden.

Das Denken wagen

Und sei es die Geschichte von 1001 Nacht, wo der Triumph der virtuosen Erzählerin Shéhérazade darin besteht, durch das blosse Erzählen von Geschichten zu überleben. Die Geschichte aus dem Orient brachte im Okzident einen narrativen Dominoeffekt ohnegleichen in Gang. Ein Stück erzählerischer Befreiungstheologie als Befreiung von dogmatischer Theologie – die effizienteste Befriedungsmassnahme, die man sich nur denken kann. Phantasievolle Radikalität im Kampf gegen alles Radikale.
Doch dies ist nur eine von 1001 Möglichkeiten, Europa als »Narrativ« neu zu denken. Andere Wege sind nicht weniger interessant und innovativ. Sie können hier nur stichwortartig gelistet werden. Man könnte sich Europa zum Beispiel als permanenten Verhandlungsraum auch und gerade zwischen Parallelgesellschaften denken; als Territorium der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen; oder als flexible Pufferzone zwischen den grossen Systemen und dabei ständig auf der Suche nach neuen Möglichkeiten, um mit dem Massenphänomen der nicht eindeutigen Zugehörigkeit umgehen zu lernen.
In jedem Fall ist es an der Zeit, Europa von der schweren Bürde seiner tausendfach missbrauchten und verratenen Werte zu lösen und es gedanklich, ästhetisch, künstlerisch zu definieren. Damit zu experimentieren und es emotional zu erfahren. Das ist sicherlich ein anstrengendes Vorhaben. Aber schliesslich wollen wir nicht dazu kommen, den Begriff »europäische Werte« irgendwann einmal zum Unwort des Jahres deklarieren zu müssen – nach dem Motto: »Es war einmal ein Europa«.

Erstmals veröffentlicht in der NZZ vom 8. Dezember 2018.
Wir danken dem Autor für die freundliche Erlaubnis zur Aufnahme seines Texts in die Sammlung der INO.

Jürgen Wertheimer ist emeritierter Professor für deutsche Literaturwissenschaft und Komparatistik an der Universität Tübingen und Träger des Prix International de la Laïcité (2013).