Kiosk 36 – Budapest, ein Nachruf

Viszontlátásra! (Dohány & Kioszk)

Vom vielleicht berühmtesten Sohn Ungarns – der allerdings im heute österreichischen Burgenland geboren wurde (darin Mozart vergleichbar, der im seinerzeit bayerischen Salzburg das Licht der Welt eblickte) und der selbst von sich behauptete, sein Vaterland sei Frankreich – von Liszt Ferenc also, deutsch Franz Liszt, berichtet eine Anekdote, es sei ihm das druckfrische Exemplar einer technisch außerordentlich anspruchsvollen Étude von Chopin vorgelegt worden, die er sogleich coram publico vom Blatt spielte, dabei seine brennende Zigarre zwischen Ring- und Mittelfinger haltend.
Den heutigen Magyaren nun werden solche Kunst- Kabinett- oder Husarenstückchen bedeutend erschwert, herrscht doch kaum irgendwo sonst in der Welt ein solch strenges Tabakregiment wie in Liszts angeblichem Heimatland, wo seit einigen Jahren aufs peinlichste darauf Acht gegeben wird, daß der Handel mit Tabakerzeugnissen als offensichtliche Unsittlichkeit den Blicken der Öffentlichkeit entzogen ist: In den Verkaufsstellen des staatlichen Tabakmonopols müssen alle Fenster blickdicht verhängt sein, und bevor dort irgendjemandem etwas verkauft wird, ist sicherzustellen, daß die Türen verschlossen sind, ungeachtet der vor ihnen aufgehängten Vorhänge – Kioske, die einst das Stadtbild prägten, sind so gut wie verschwunden und dienen allenfalls noch als Souvenirläden. Daß Minderjährigen hier kein Zutritt gewährt wird, bedarf eigentlich keiner Erwähnung, indes ist es bemekenswert, daß eines der beiden weithin sichtbaren Zeichen, die unmißverständlich auf Tabaktrafiken hinweisen, eine große 18 in rotem Kreis ist. Doch wird alledem ein Ende bereitet werden – es hat sich nämlich die Regierung das ehrgeizige Ziel gesetzt, Ungarn zum ersten vollständig tabakfreien Staat der Welt zu machen. [N.b.: Wir hoffen, daß sie dies so wenig wie einige ihrer anderen Ziele erreichen möge.] So soll es also, wenn es nach den Vorschlägen von János Lázár, dem Beauftragten für Nichtraucherschutz im Büro von Viktor Orbán geht, allen nach dem 1. Januar 2020 Geborenen auf immerdar verwehrt sein, jemals mit Tabakerzeugnissen in Berührung zu kommen, ganz egal, ob sie volljährig und damit für sich selbst verantwotlich handlungsfähig sind oder nicht. Es wird somit, wenn unsere Berechnungen stimmen, spätestens um das Jahr 2120 der letzte Magyare, der noch als Zeitzeuge von einer eigenen Erfahrung mit Tabak berichten kann, das Zeitliche gesegnet haben – wahrscheinlich sogar schon früher, da seine Lebenserwartung ja signifikant niedriger sein wird als die seiner rauchfreien Mitungarn, und auch, weil mangels Rauchern das Gesundheits- und Sozialsystem längst zusammengebrochen sein wird.
Ein nicht uninteressanter Aspekt bei dieser ganzen Geschichte ist die Tatsache, daß solches nur vor dem Hintergrund des Konzepts eines Volkskörpers verstanden werden kann. Hinter dem Ziel der Förderung oder Erhaltung der individuellen Gesundheit des Einzelnen hinaus scheint die Vorstellung einer kollektiven Gesundheit, einer Gesundheit, ja besser noch Gesundung des Volkskörpers auf. Diese ist neben oder sogar über der medizinisch-hygienischen eine vaterländisch-moralische – nur so läßt sich die Rigidität der bereits getroffenen Maßnahmen und die Radikalität der durchaus ernstgemeinten Vorschläge verstehen.