Vor einigen Jahren, im Zuge einer baugeschichtlichen Photokampagne in Mantua, verschlug es uns nach Peschiera del Garda, einen Ort, den wir sonst wohl eher gemieden haben würden, hielte hier nicht der Nachtzug nach München. Für das Abendessen stand eine beachtliche Zahl an Restaurants zur Auswahl – der Ort ist auf einen großen Andrang von Touristen eingestellt, hauptsächlich deutscher. Die Speisekarten wiesen ausschließlich italienische Gerichte auf, was insofern nicht ganz selbstverständlich ist, als die Ufer des Gardasees ja vor noch nicht allzulanger Zeit mit Etablissements überschwemmt waren, die mit ›deutschem Kaffee und Kuchen‹ warben. Sollte sich hieraus auf einen Wandel schließen lassen, vom ängstlichen Bestehen auf Heimatlich-Vertrautes hin zu einer Offenheit für das Fremde, einer um sich greifenden Neugier auf das Authentische, Ungewohnte, Unbekannte, dessen Ort die Fremde ja ist?
Ein solcher Schluß wäre indes voreilig, ist den Deutschen doch von zuhause her nichts vertrauter als Pizza und Spaghetti bolognese, und übertrifft die Zahl der Pizzerien längst die der Gasthäuser, in denen das angeboten wird, was man als authentische deutsche Küche bezeichnen könnte. Der deutsche Tourist, der am Gardasee ins Restaurant geht, ißt also nichts anderes, als was ihm von Gelsenkirchen oder Kötzschenbroda her vertraut ist, und dies zeigt auch mehr als deutlich der Blick auf die Speisekarten nicht nur in Peschiera, die denen der weichgespülten eingedeutschten Italiener gleichen wie ein Ei dem anderen und die nicht das geringste mit dem zu tun haben, was der große Artusi im Sinn hatte, als er sich daranmachte, die italienische Küche zu schaffen. Und es schmeckt auch nicht anders als in Wuppertal oder Rostock. Mit einer authentischen italienischen Küche hat dies kaum etwas zu tun, und der Vorgang, der sich hier beobachten läßt, ist ein bemerkenswerter: Der Siegeszug der italienischen Restaurants in Deutschland ging einher mit der Herausbildung einer standardisierten verwässerten pseudo-italienischen Küche deutschen Zuschnitts, und es ist genau dieses seinen Ursprüngen Entfremdete, das im Gefolge der Touristenströme in die Heimat reimportiert wurde, sich dort festsetzte und nun sein Zerstörungswerk anrichtet.
An wenigem wird sich das komplexe Verhältnis des Fremden zum Vertrauten so explizit untersuchen und darlegen lassen wie am Kochen – wohl, weil kaum etwas so unmittelbar und spontan erfahren wird und auch, weil weniges sich so unausweichlich zeigt. Speisekarten sind, wie das Musikangebot in Diskotheken, geschmeidige Angelegenheiten, und der Erfolg einer Maßnahme zeigt sich unmittelbar. Von daher sind sie gute Indikatoren; die vollständige Gleichschaltung der Angebote der Restaurants die Adria hinauf und hinab, die geglückte Verwandlung sämtlicher Betriebe in italienische Kolonien nach deutschem Muster wie oben ausgeführt gibt da zu denken. Die Architektur der Städte steht als unwandelbare Gegebenheit am anderen Ende der Skala – zumindest die derjenigen, die eben der Architektur wegen ihren sicheren Platz auf der touristischen Agenda haben, UNESCO-Welterbestätten und Anlaufpunkte der großen Kreuzfahrtschiffe wie Split, Dubrovnik/Ragusa oder Kotor, deren Erscheinungsbild auf eine fast spukhafte Weise eine idealisierte, weichgespülte, geschichtslose Vergangenheit in bühnenbildhafter Erscheinung konserviert oder auch erst herstellt. Doch merkwürdigerweise entsteht auch hier, bei dieser herausgestrichenen Authentizität, der Eindruck, als seien diese Orte samt und sonders das Werk einundderselben Agentur, denn tatsächlich ähneln die Städte sich, vom Vermarktungskonzept bis zum Straßenpflaster und der Beleuchtung, wie ein Ei dem anderen. Dead City Cosmetics wäre ein passender Name für eine solche Agentur, denn tatsächlich verbindet diese Städte, daß sie sich samt und sonders ausmachen wie aufgeputzte Leichname.
Denn was sich innerhalb der so attraktiv herausgeputzten Gemäuer abspielt, hat so gut wie nichts mit urbanem Leben zu tun und nichts mit einer Konsistenz des Orts, an der seine Bewohner, seine Kultur oder seine Geschichte irgend Anteil hätten. Was sich in den Auslagen der Geschäfte findet, hat nichts mit den Notwendigkeiten des Alltags in jenen Städten zu tun, und man fragt sich, wo wohl die Bewohner, die es ja doch auch geben muß, sich das Lebensnotwendige besorgen. Doch auch, was der Reisende angeboten findet, ist ein merkwürdig reduziertes Repertoire, und man ist geneigt, hier denselben Geist am Werk zu sehen, der auch für die Gleichschaltung der Küchen verantwortlich zeichnet. Denn auch die unzähligen Geschäfte, die noch den letzten verwertbaren Winkel der alten Handelsstädte in Beschlag genommen haben, bieten keineswegs etwas an, das dem Touristen nicht schon von allen anderen Städten her vertraut wäre. Erstaunlicherweise ist es nicht einmal mehr Folklore, was ihn erwartet. Die Folklore als weichgespülte Designversion des Fremden und Authentischen in leichtverdaulicher, bequem konsumierbarer Ausprägung hat allem Anschein nach ausgedient und scheint nichts mehr zu sein, was sich dem Touristen gegenüber kommerziell erfolgreich ausnutzen oder ausschlachten ließe.
Auch hier kann angenommen werden, daß, wie beim Essen, Wünsche, Erwartungen und Bedürfnisse ihre genaue Entsprechung im Angebotenen finden – und daß die Ausschließlichkeit des standardisierten Angebots einen verläßlichen Rückschluß auf die statistische Verteilung der Nachfrage zuläßt.
Es scheinen somit die zu beobachtenden Strategien und Tendenzen auf ein allenfalls geringes Interesse an der Wahrnehmung und Erfahrung kultureller Differenz hinzuweisen. Die Frage stellt sich hier, ob dies nicht als ein Indiz für das Verschwinden der kulturellen Differenz überhaupt genommen werden muß – und ob sich in diesem Verschwinden der kulturellen Differenz nicht tatsächlich das Verschwinden der Kultur selbst abzeichnet.