Perspektive bei Walter De Maria – Teil 1

»…lines traveling out to infinite points…« 

Ein Essay in zehn Lieferungen

Apollo’s Ecstasy. Photo Fritz Barth, © Estate of Walter De Maria

1.: Der Raum im arsenale

Apollo’s Ecstasy, ein 1990 entstandenes Werk von Walter De Maria, war 2013 ein Lichtblick auf der Biennale in Venedig, ein Ereignis, das jede Anreise lohnte – wobei vielleicht der letzte Teil des Wegs sich als der undankbarste erweisen mochte, der Gang durch die endlosen Hallen des arsenale mit all den hier versammelten Konfusionen.

Apollo’s Ecstasy war in der letzten dieser Hallen aufgebaut oder vielleicht besser eingerichtet, in einem Raum, der den Vorstellungen des Künstlers offenbar so sehr entsprach, daß er, ganz entgegen seiner sonst geübten Zurückhaltung, den Besuch der Ausstellung mit einem gewissen Nachdruck empfahl. Der Raum ist eine späte, wohl in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erbaute Ergänzung des seit dem Mittelalter angelegten und ausgebauten Komplexes der Werkstätten, Gießereien, Seilereien und Magazine, der zusammen mit den großen Hafenbecken das arsenale ausmacht, bis zur Auflösung der serenissima die Basis der venezianischen Flotte und vor dem Beginn des Industriezeitalters der größte Produktionsbetrieb Europas, in der Lage, im Jahr 1570 zur Vorbereitung der Seeschlacht von Lepanto innerhalb zweier Wochen 100 Galeeren zu bauen und auszurüsten. Er folgt mit seiner Anlage aus drei durch Säulenreihen voneinander getrennten Schiffen dem Typus der älteren Hallen, mit dem Unterschied, daß hier den Platz der ausgesprochen massiven gemauerten tuskischen Säulen nun schlanke gußeiserne einnehmen, deren Sinn sich indes heute nicht mehr zu erschließen vermag, haben sie doch nichts als zwei hölzerne Balken zu tragen und stehen auch in keiner Verbindung mit der Konstruktion des Daches, das sich unabhängig von ihnen frei über die gesamte Breite des Raums spannt. Sorgen die dicken Säulen in den alten Hallen für eine deutliche Trennung der drei Schiffe und eine klare Dominanz des breiteren mittleren, so ist hier die Dreischiffigkeit nurmehr eine Tendenz – der Raum ist in seiner Gesamtheit und in seinen Dimensionen jederzeit klar und vollständig zu erfassen, und die beiden Säulenreihen bewirken wenig mehr, als daß er in Zonen unterteilt wird. Bei den beiden Seitenschiffen wird diese Zonierung verstärkt durch in der Ebene der erwähnten Holzbalken eingezogene, quer zur Hauptachse des Raums verlaufende Stichbalken aus Stahl, die hier für die Andeutung einer gereihten Struktur sorgen, ein Raumgerüst, gebildet aus durch ihre Kanten definierten Quadern. Im Mittelschiff jedoch fehlt eine vergleichbare Staffelung durch quer verlaufende Glieder, und es dominiert der ungebremste Zug in die Tiefe. Mit einer bei aller Simplizität der Erscheinung durchaus komplexen Raumstruktur haben wir es hier also zu tun: Einem quaderförmigen, stereometrischen, durch Boden, Wände und Dachkonstruktion definierten Raum ist, weitgehend unabhängig von ihm, statisch wie auch konstruktiv nicht begründet, ein Raumgerüst eingestellt, das seine Struktur einmal, in den Seitenschiffen, als parataktische Reihung von Zellen ausweist, dagegen das breitere Mittelschiff, soweit überhaupt isolierbar, als nicht zerlegbare ›Zone‹. Der Gesamtraum jedoch besitzt eine Struktur, die sich durchaus als hypotaktisch bezeichnen läßt, wenn man denn Begriffe aus der Rhetorik auf die Architektur anwenden möchte.

All dies findet in einem streng orthogonalen Rahmen statt, und insgesamt kommt man nicht umhin, dem Raum eine Nähe zu den perspektivischen Raumexperimenten zu attestieren, wie sie in der Frührenaissance von Brunelleschi und seinen Nachfolgern betrieben wurden – wie die Abstraktion eines quattrocentesken Raumkonzepts mutet er an.

Apollo’s Ecstasy. Photo Fritz Barth, © Estate of Walter De Maria
Daß die letzte Halle im Arsenale ihre Gestalt kaum irgendwelchen subtilen architektonischen Überlegungen zu verdanken hat, sondern handfesteren Absichten, muß kaum eigens erwähnt werden, doch ändert dies nichts an der strukturellen Qualität des Raums, und es mag wohl nicht zuletzt gerade dieses Fehlen an als baukünstlerisch aufzufassenden Absichten sein, das ihn für Walter De Marias Zwecke so hervorragend brauchbar machte. Und tatsächlich bestimmt sich dieser von jeglichem erkennbaren Zweck, ja selbst von der Erinnerung an einen ehedem seine Eigenheiten erklärenden Zweck befreite Raum in erster Linie durch seine perspektivischen Eigenschaften, genauer: durch eine perspektivische Konzeption des Raums, wie sie in der frühen Neuzeit entstand und bis heute unseren Raumbegriff und unsere Raumwahrnehmung grundlegend bestimmt.
[fb]