Beobachtungen zur Perspektive im Werk von Walter De Maria
Ein Essay in zehn Lieferungen
10.: Perspektive und Zahl, und zum Schluß das Unendliche
Bei kaum einem anderen Baumeister der Renaissance läßt sich ein vergleichbares Primat der Struktur gegenüber der Masse konstatieren. Interessant ist eine denkwürdige Dichotomie der Struktur: Ist sie nämlich zum einen der neuen zentralperspektivischen Raumkonzeption verpflichtet, indem sich die in die Tiefe führenden Linien ungebrochen, vervielfältigt und sehr prominent zeigen, den Raum sich gewissermaßen unterjochen, so zeigt sich gleichzeitig etwas ganz anderes, das auf eine entgegengesetzte, man ist geneigt zu sagen: isometrische Raumauffassung schließen läßt, ein aus dünnen linearen Gliedern gebildetes cartesianisches Gerüst, das einen aus Zellen von völliger Regelmäßigkeit zusammengesetzten Raum zeigt, einen modularen Raum, der durch ein an Konsequenz kaum zu übertreffendes Proportionssystem zusammengehalten wird. Dieses Proportionssystem ist alles andere als eine Geheimwissenschaft, und in diesem Sinn könnte es offensichtlicher kaum sein: Überall in den Bauten finden sich unzweideutige Hinweise, daß es sich um einfache ganzzahlige Verhältnisse handelt – Leseanleitungen gewissermaßen, die jeden Zweifel an der luziden Klarheit der geometrischen Konstruktion aszuräumen vermögen. Alles ist sichtbar, offenbar.
Zwei mögliche, vielleicht konkurrierende, ja gar sich ausschließende Ordnungsmodelle zeigt Brunelleschi in Santo Spirito und in San Lorenzo also auf: zum einen das der soeben entdeckten Zentralperspektive, den Gesetzen der Wahrnehmung verpflichtet und geometrisch beweisbar, zum anderen das nach der Erhabenheit der Zahl gebildete nicht weniger offensichtliche. Beide weisen sie auf die göttliche Weltordnung – dieses auf die Harmonie der Schöpfung, die Gott nach Maß, Zahl und Gewicht geordnet hat (Weish. 11:21), jenes auf die enthusiastische Überzeugung der frühen Renaissance, es vermöge sich im Sichtbaren und mithin in den Gesetzen der Wahrnehmung der Plan der göttlichen Ordnung zu spiegeln und zu offenbaren. Die Kirchenbauten Brunelleschis führen in bemerkenswerter Konsistenz diese beiden Ordnungsprinzipien vor, ohne daß irgend ein Widerspruch offensichtlich würde, und genau hierauf dürfte die Parallelisierung abzielen: Nach der Überzeugung des Florentiner Neuplatonismus, dessen Blütezeit kurz nach Brunelleschis Tod mit der Gründung der Florentiner Platonischen Akademie durch Cosimo de’ Medici einsetzt, muß jegliche Offenbarung grundsätzlich eins sein, und es ist wie eine Illustration dieses Gedankens, wenn Brunelleschi die Manifestationen der beiden Raum- und Weltordnungsmodelle in seinen Bauten als konfliktfreie Übereinstimmung zu konstruieren unternimmt.
Ob Walter De Maria sich je mit solchen Spekulationen der frühen Neuzeit auseinandergesetzt hat, wird kaum zu klären sein, und über die Spuren, die eine solche Auseinandersetzung in seinem Werk hinterlassen haben mag, läßt sich allenfalls spekulieren. Jeglichen Hinweis auf persönliche Umstände oder auf intellektuelle Neigungen und Interessen vermied er aufs sorgfältigste – seine Konzeption der Unsichtbarkeit schließt auch die Person des Künstlers ein: »I think to be a true minimalist you should almost nearly be invisible yourself.« Keine Erklärung aus der Biographie, auch nicht aus der intellektuellen, wird also die Unmittelbarkeit des Kunstwerks in bequeme Kanäle lenken und beschwichtigen können.
Es kann hier somit nicht darum gehen, in den Raum- und Perspektivkonzeptionen des 15. Jahrhunderts Quellen oder Referenzen für Walter De Marias Arbeit auszumachen, sondern es soll lediglich auf Parallelen hingewiesen werden – freilich auf solche, die sich nicht auf einzelne Aspekte beschränken, sondern stets mit einem Bündel von Gemeinsamkeiten aufwarten. Die vielleicht überraschendste dieser Parallelen ist die Tatsache, daß sich für die an Brunelleschis Bauten zu konstatierende Korrespondenz der Welterkenntnis- oder Weltordnungsmodelle, das der Perspektive und das der Zahl, ein genaues Pendant im Werk von Walter De Maria findet. In der großen Gruppe der auf Zahlenreihen basierenden Arbeiten, die um die Mitte der Sechzigerjahre einsetzt, ist die Zahl, vergleichbar ihrer Erscheinung bei Brunelleschi, stets auf stereometrische Figuren und deren Kombination angewandt – scheinbar geheimnislos und unverborgen. Nicht wenige dieser Werke stehen in ganz offensichtlichem Zusammenhang mit der Perspektive (etwa Equal Area Series, 1976-77; A Computer which will solve Every Problem in the World / 3-12 Polygon, 1984; 5-7-9 Series, 1998, Gemäldegalerie Berlin; The 2000 Sculpture, 1999-2000), und bei den beiden Installationen in Naoshima, Seen/Unseen, Known/Unknown, 2000 und Time/Timeless/No Time von 2004 sind schließlich die polierten Granitkugeln mit zwei bzw. neun Dreiergruppen aus vergoldeten Holzstelen mit polygonalen Querschnitten kombiniert.
Die großen Kugeln bieten, fernab davon, sich als Alterswerk von nachgeordneter Bedeutung abtun zu lassen, tatsächlich in mancher Hinsicht so etwas wie eine Summe, eine Konzentrierung, und hierin fast eine Apotheose minimalistischer Konsequenz. War bei den frühen Arbeiten im Umfeld des happening das Kunstwerk in und mit der Aktion des teilnehmenden Rezipienten (jede verfügbare Bezeichnung ist hier unzulänglich) erst eigentlich entstanden, so findet mit diesen späten Werken eine Entwicklung ihren Abschluß, während der das Sich-Ereignen des Kunstwerks, das der Begriff happening ja benennt, unter immer weiter gehendem Verzicht auf alle Aspekte des Performativen sich in den Blick und den Akt der Betrachtung verlagert hatte, um schließlich im Konzentrat der large spheres seine äußerste Konsequenz zu erreichen. Was der Betrachter auf ihrer sorgfältig polierten Oberfläche findet (die keinen Zweifel an der Bedeutung der Spiegelung zuläßt) ist so etwas wie eine Krisis der Perspektive: Hier zeigt sich die projektive Koinzidenz von Blickpunkt und Fluchtpunkt, die Hubert Damisch für Brunelleschis Experimente konstatiert. Und was der konvexe Spiegel der Arnolfini-Hochzeit, die Inkunabel komplexer Reflexion, reflektiert oder zumindest insinuiert, den Fluchtpunkt im Auge des Betrachters (der in diesem Fall nur der Künstler selbst sein kann, Van Eyck, der Zeitgenosse Brunelleschis), wird hier jenseits aller Repräsentation eingelöst: In der mise en abyme dieser unendlichen Widerspiegelung, bei der ja der Fluchtpunkt hinter dem gespiegelten eigenen Bild liegt und somit auch hinter dem Blickenden selbst, in unendlicher Ferne, ereignet sich mit dem paradoxen Aufscheinen des Unendlichen eben auch die Aufhebung der Zeit in das Moment einer ›ewigen Gegenwart‹ – der Titel der zweiten Arbeit in Naoshima, Time/Timeless/No Time, scheint auf einen solchen Zusammenhang zu verweisen.
Der Frage nach dem Unendlichen, ein wesentliches Anliegen der frühen Neuzeit und in die Problematik der Perspektive untrennbar verflochten, wenn nicht aus ihr geboren, kommt im Werk von Walter De Maria eine bedeutende, wenn nicht zentrale Rolle zu. Zwei Aussagen finden sich hierzu im Interview von 1972. Nicht allerdings ist es das Unendliche selbst, von dem der Künstler spricht; worum es ihm geht, ist zunächst die Möglichkeit einer unmittelbaren Erfahrung der intelligiblen Gegebenheit – »… the real notion of an infinite space is perhaps one of the few thoughts that is worth thinking about more than once« –, und schließlich ganz konkret die Herstellung dieser Erfahrbarkeit im Kunstwerk: »… the notion of lines traveling out to infinite points from the sculpture but done in subliminal way is a hard, hard thing to do but it is possible to do it.« Unter diesen Aspekt ließe sich ohne nennenswerte Mühe ein Großteil seines Werks seit den frühen Sechzigerjahren einordnen; bei den Arbeiten, die im Rahmen der hier vorliegenden fragmentarischen Untersuchung betrachtet wurden, ist in ihm zweifelsohne ein Leitmotiv zu erkennen, und es sind diese beiden Sätze, die sowohl die Absicht zum Ausdruck bringen, nämlich die Wahrnehmung des unbegrenzten Raums im Kunstwerk (und, unausgesprochen, das damit verbundene Erschrecken), als auch das Mittel bezeichnet mit der Beschreibung eines der bedeutendsten und folgenreichsten Aspekte der Zentralperspektive, freilich ohne diese direkt zu benennen.