Perspektive bei Walter De Maria – Teil 2

»…lines traveling out to infinite points…«
Beobachtungen zur Perspektive im Werk von Walter De Maria
Ein Essay in zehn Lieferungen

2.: Zur Perspektive

Es ist also schon der Raum selbst, der hier den Gegenstand der Perspektive anschlägt – ein Thema, das sich durch ein merkwürdiges Oszillieren auszeichnet zwischen dem, was der Begriff unmittelbar als Teil der geometrischen Optik bezeichnet und seiner Verwendung als Metapher der Welterkenntnis und Weltaneignung. Die Entdeckung oder auch Erfindung der Zentralperspektive läßt sich, wenn auch nicht ohne Vorbehalt, durchaus als den Gründungsakt der Neuzeit auffassen. Der Nachweis, daß das Sehen, also die Wahrnehmung, genauen geometrischen Gesetzen folgt, somit eins ist mit der intelligiblen Erkenntnis, muß ein grandioser Befreiungsschlag gewesen sein.

Porträt des Filippo Brunelleschi aus Giorgio Vasari, Le vite…, Florenz 1550.

Die Prägung oder Anwendung des Wortes ›Perspektive‹, ital. prospettiva, auf die der Wahrnehmung genau entsprechende Darstellung räumlicher Konstellationen, die, wenn man in Betracht zieht, daß Brunelleschi, mit dessen beiden berühmten Vesuchsanordnungen von 1413 die Geschichte der neuzeitlichen Zentralperspektive ihren Anfang nimmt, ein Goldschmied und Architekt und eben kein Maler gewesen ist, kaum auf eine malerische Raumillusion gemünzt gewesen sein dürfte, sondern viel mehr als ein Experiment aufgefaßt werden muß, ein Erkanntes zu verifizieren – daß nämlich das Wahre im Sichtbaren zu finden sei –, ist ein Exempel für die philologische Präzision der Humanisten der Renaissance: Fand sich schon bei Vitruv die Erwähnung einer räumlichen Darstellung von Architektur, jedoch unter der Bezeichnung scenographia (einem griechischen Lehnwort, das eigentlich ›Bühnenbild‹ bedeutet und dessen Nachhall in der italienischen prospettiva mitschwingt), so ist das der Perspektive zugrunde liegende perspicio (in dessen Wortfeld auch speculum, der Spiegel gehört) zwar in seiner Grundbedeutung als ›mit dem Blick durchdringen, hin­einsehen‹ wiederzugeben, doch auch mit ›durchschauen, erkennen, wahrnehmen, seinem Charakter nach kennenlernen‹, und in seinem Umfeld überwiegen die Bedeutungen, die gegenüber dem physischen optischen Vorgang der Metapher des Erkennens den Vorrang geben. Die Identifizierung der Vorgänge von Sehen und Begreifen, also von Sinneswahrnehmung und Erkenntnis, könnte wohl keinen besseren Ausdruck finden als in der Heranziehung von perspicio in der genannten Doppelbedeutung für ebendiese Konjunktion von Wahrnehmbarem und Intelligiblem, die eine wesentliche Grundlage der Neuzeit bildet.
Einerseits bleibt nun der Perspektive die konkrete Bedeutung einer auf die Illusion abzielenden Darstellung räumlicher Konstellationen – aus der sie sich indes alsbald von Desargues in eine abstrakte geometrische Verallgemeinerung ausweiten läßt, nämlich zur projektiven Geometrie, in der sie lediglich einen Sonderfall darstellt –, andererseits erfährt sie als Metapher, zu der sie sich ja nicht zuletzt dank ihrer bereits den Ursprüngen eigenen Doppelbedeutung oder -deutigkeit hervorragend eignet, eine bedeutende Ausweitung und vermag sich nun zur Grundlage jeglicher Wahrnehmung und Erkenntnis heranziehen zu lassen. Bei Nietzsche findet sich dies radikalisiert: Für ihn ist das Perspektivische »die Grundbedingung alles Lebens« (Vorrede zu Jenseits von Gut und Böse), und es ist die »Perspectiven-setzende Kraft«, vermöge deren »jedes Kraftcentrum – und nicht nur der Mensch – von sich aus die ganze übrige Welt construirt« (Nachgelassene Fragmente, Frühjahr 1888).

Diese Betonung einer Aufspaltung der Perspektive in einen geometrisch-optischen und einen metaphorischen Aspekt geht freilich an der Sache vorbei, denn es bleibt stets die Abbildbarkeit des einen auf das andere, beziehungsweise die Identifizierbarkeit des einen mit dem anderen im Zentrum des Spiels, und sei es als barocker rhetorischer Kunstgriff. Bei Pozzos denkwürdiger Decke in Sant’ Ignazio, die sich als groteskes Chaos darbietet, bis schließlich von dem einen und einzigen Standpunkt, auf den hin die ganze Komposition berechnet ist, alles Wirre sich zum Wohlgeordneten zusammenschließt, soll, so ist anzunehmen, genau dies gezeigt werden: Fast wie eine Vorwegnahme von Nietzsches radikalem Perspektivismus scheint es, wenn hier die Welt von einem einzigen Standpunkt aus – oder auf einen einzigen Standpunkt hin – konstruiert wird.

Rom, Sant’Ignazio, Ausschnitt der Decke

In diesem rhetorischem Konstrukt ist die Voraussetzung der Erkenntnis also die Fähigkeit oder Bereitschaft, den rechten Standpunkt einzunehmen. Was somit in Hinblick auf die Wirksamkeit der räumlichen Illusion betrachtet mit einer in mancher Hinsicht irritierenden Unzulänglichkeit behaftet ist – ist die grandiose Raumerweiterung doch nur von kurzer Dauer und vermag sie es nicht, den Raum insgesamt zu bestimmen, wie später etwa bei Tiepolos Decken –, wäre dann genau das von Pozzo intendierte, nämlich eben die Unmöglichkeit, die luzide und grandiose Klarheit der Ordnung anders zu erkennen, als von dem einen und einzig tauglichen Standpunkt aus. Das Ziel dieser kaum anders als im allgemeinen Kontext der barocken Rhetorik aufzufassenden Operation dürfte nicht zuletzt in einer Analogiebildung zu sehen sein: Das Wirre, grotesk Deformierte, in der Dissoziation der Zusammenhänge Unverständliche, das die Decke von Sant’ Ignazio mit der schwindelmachenden Unlesbarkeit der Welt gemein hat, vermag sich in wohlgefügte Ordnung und Sinnfälligkeit aufzulösen; daß solches mit den Mitteln der Repräsenzation gelingen kann, gestattet den Rückschluß, daß auch die unlesbare Welt selbst, zu der ja das Bild an sich grundsätzlich in einem repräsentierenden Verhältnis stehen muß, in ihrer vollkommenen Ordnung, die ihr als dem Werk Gottes notwendig eignet, irgendwie erkennbar sein muß: Was hier beschworen wird, ist ein Bildpotential, das über das Vorhandensein eines Standpunkts hinaus, von dem aus die Ordnung sich erschließt, nichts weniger als die Existenz der Ordnung selbst manifestiert – eine Position, die recht genau die Kosmologie des Barock zum Ausdruck bringt.

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