Perspektive bei Walter De Maria – Teil 4

»…lines traveling out to infinite points…«
Beobachtungen zur Perspektive im Werk von Walter De Maria

Ein Essay in zehn Lieferungen

4.: Apollo’s Ecstasy
Apollo’s Ecstasy. Photo Fritz Barth, © Estate of Walter De Maria
Apollo’s Ecstasy, im Besitz des Stedelijk Museum in Amsterdam, besteht aus 20 je fünf Meter langen polierten Bronzestäben, die im Abstand von jeweils einem Meter schräg zur Raumachse parallel auf den Boden gelegt sind, wobei sie insgesamt ein Parallelogramm bilden, das in ein Rechteck von 4 x 22 m einbeschrieben ist. Der Winkel von ca. 37°, den die Stäbe zur Achse bilden und der genau den Diagonalen der Säulenstellung im Raum entspricht, richtet sich nach dem einfachsten der pythagoreischen Tripel, dem rechtwinkligen Dreieck mit den Seitenverhältnissen 3:4:5, was sich gut zu der Beobachtung fügt, daß Walter De Maria das Beunruhigende, letztendlich Unergründliche, das dem Kunstwerk grundsätzlich zu eignen scheint, gerade an Einfachstem, am Grundlegenden festmacht, oder daß es gerade dieses Einfachste ist, das mehr als alles andere die Frage nach dem Grundsätzlichen zu stellen zwingt. Tatsächlich scheint Apollo’s Ecstasy Derartiges zu betreiben, und es ist vielleicht genau die Frage, was die explizit einfache Anordnung einfachster Gegenstände zum Kunstwerk macht, die, über die Frage nach dem Kunstwerk selbst hinaus, diejenige nach seiner Transzendenz zu stellen zwingt.

Doch wird man sich mittels der letztendlichen Unerklärbarkeit des Kunstwerks kaum bequem herausreden dürfen – zurück also zur Perspektive. Auch hier ist das Verfahren einfach: Die Stäbe, diagonal zum orthogonalen Gerüst des Raums arrangiert, das wir spätestens, seitdem die neuzeitliche Zentralperspektive sich unserer Wahrnehmung bemächtigte, unserer Raumvorstellung zugrunde legen, schaffen die paradoxe Situation, daß die in die Tiefe verlaufenden Begrenzungen des Feldes zwar genau der Fluchtpunktkonstruktion entsprechen, die für korrekt zu halten wir gewohnt sind, daß aber der Fluchtpunkt der Stäbe selbst mit diesem nicht in die erwartete orthogonale Korrelation zu bringen ist. Das Bild, das sich hier darbietet, entspricht genau den schematischen Perspektivkonstruktionen des 15. Jahrhunderts, nur unter Verzicht auf die in der Tiefe gestaffelten Orthogonalen. Daß die Stäbe nicht in ein orthogonales Raster gelegt sind, ist freilich offensichtlich, doch scheint das Bedürfnis nach der vertrauten Wahrnehmung zu veranlassen, die Aufgabe der notwendigen Orthogonalen den hierzu freilich nur sehr eingeschränkt tauglichen Diagonalen zu übertragen. Das Bedürfnis, das Gesehene in das Korsett eines vertrauten Schemas zu zwingen, scheint so ausgeprägt zu sein, daß sich selbst bei offenkundiger Unmöglichkeit noch immer ein beachtliches Maß an räumlicher Desorientierung einstellt.

Apollo’s Ecstasy. Photo Fritz Barth, © Estate of Walter De Maria

Ein weiteres kommt hinzu: Tatsächlich orthogonale Arrangements sind ohne weiteres denkbar, die zumindest partiell und von bestimmten Standpunkten aus ein Bild auf der Netzhaut entstehen ließen, das dem entspräche, das Apollo’s Ecstasy gibt – wer sich je an der Konstruktion von Perspektiven über Eck, also mit mehreren Fluchtpunkten versucht hat, kennt solche Effekte bei der Wiedergabe von rechten Winkeln, die, obgleich korrekt konstruiert, befremdlich spitz oder stumpf erscheinen. Das Bild, das das Feld der parallelen Stäbe etwa beim Blick über Eck gibt, ist also ein durchaus auch für ein orthogonales Arrangement mögliches, doch läßt es sich nicht mit der Geometrie des Raums synchronisieren, denn der Standpunkt, der als einziger ein solches Bild erlaubte, entspricht nicht dem tatsächlich eingenommenen. Vergegenwärtigt man sich, daß die Bindung der Perspektive an den Standpunkt eine grundsätzliche und unauflösbare ist – zumindest nach unserem Verständnis des Raums –, so steckt in dem, was man hier vor sich hat, ein erhebliches Potential der Verunsicherung, ja der Verstörung. Diese Destabilisierung wird hier in der letzten Halle des arsenale noch durch ein anderes Element verstärkt, bei dem sich das Kunstwerk selbst und die Bedingungen des Raums aufs glücklichste ergänzen: Durch die diagonale Anordnung der Stäbe entsteht der Eindruck, es seien nicht die sich gegenüberliegend entsprechenden gußeisernen Säulen des eingestellten Raumgerüsts, die sich zu den Rahmen einer kulissenartigen Tiefenstaffelung zusammenschließen, sondern es entsteht die etwas unscharfe, mit dem durch die Architektur definierten ›realen‹ Raumgerüst unvereinbare Raumbildung durch in der Tiefe versetzte, also diagonal zusammengeschlossene Rahmen aus Säulen und Stäben, und es ist gerade die Tatsache, daß dies nur am Rande der Wahrnehmungsschwelle geschieht, also solange man seine Konzentration eben nicht darauf richtet, die den Erfolg dieser unsere Raumwahrnehmung destabilisierenden Maßnahme garantiert.

Die Betrachtung bietet also eine ganze Reihe von räumlichen Modellen, oder besser von deren Fragmenten, mit deren Hilfe mehr oder minder unscharfe, kurzfristige Bilder von räumlichen Konstellationen aufscheinen, die zum einen in sich selbst kaum schlüssig sind (was der Wahrnehmung entgeht), die aber in der Kombination oder der Konfrontation mit anderen und vor allem mit der Architektur der Halle den Raum, dessen grundsätzlich verläßliche Struktur uns ja komfortabel im Sein verankert, in eine beunruhigende Instabilität versetzt, ihn in ein schwankendes, unsicheres und widersprüchliches, inkonsistentes Gebilde verwandeln.

Daß nun in diesem Fall keine optische Täuschung vorliegt, es sich also keineswegs um ein trompe-l’œil handelt wie etwa bei Borrominis berühmter Perspektive im Palazzo Spada, deren illusionistische Kunst alsbald aufgelöst und dann zum Gegenstand der Bewunderung werden kann, ist genau, was für die Beunruhigung sorgt: Der Grund für die Destabilisierung des Raumes wird nicht ohne weiteres zu identifizieren sein, und auch sie selbst, mit subtilsten Mitteln bewirkt, wird gewissermaßen subkutan, knapp unterhalb der Bewußtwerdungsschwelle erfahren.

Francesco Borromini, Rom, Perspektive im Palazzo Spada, Postkarte

Melnikov, der bei den erwähnten Pavillons genau die Methoden und Techniken einsetzt, die auch bei Apollo’s Ecstasy zu entdecken sind – die Kollision der ›natürlichen‹ Perspektive mit unterschiedlich manipulierten, das Spiel mit den Interferenzen zwischen dem Gesehenen und den Bildern, die es aufruft, die in gewissen Aspekten an den Kubismus erinnernde Fragmentierung des Raumbildes, die Irritationen, Inkonsistenzen, Instabilitäten und, auf einer vielleicht eher als operativ zu bezeichnenden Ebene, das Ins-Werk-Setzen der ganzen Maschinerie mithilfe der Diagonalen – betreibt all dies mit reicherer Instrumentierung, mit einer Art barockem Überschwang und einer fast inflationären Vervielfältigung der Mittel. Sein Ziel scheint einfach zu identifizieren: Bei den Bauten, die den Anbruch eines ganz neuen Zeitalters, das sich von allen vorhergehenden grundsätzlich unterschied, propagandistisch entfalten und sinnfällig untermauern sollten, mußte auch der Raum, den der Betrachter wahrnahm, sich radikal vom gewohnten unterscheiden – es sollte gewissermaßen das Anderssein des Raums sowohl Zeichen wie Grundlage der neuem Weltepoche sein. Menikovs Ziel, so läßt sich schließen, war also die Augenscheinlichkeit ebendieses neuen Raums, und es ist vielleicht nicht allzu gewagt, hier eine Parallele zu den perspektivischen Raumstrukturen zu ziehen, mit denen Brunelleschi im frühen quattrocento die Renaissance, wenn nicht gar die Neuzeit einläutete. Beide, Brunelleschi wie Melnikov, handeln als Architekten, konstruierend und in gewissem Sinne propagandistisch: Sie entwerfen ein Bild, ein Modell der Welt, und sie sind in diesem Sinne eindeutig. Genau solche Eindeutigkeit hat jedoch das Kunstwerk zu vermeiden – zumindest aus der Sicht Walter De Marias, dessen ausdrückliches Schweigen zu den Möglichkeiten der Deutung seiner Werke auf deren Offenheit beharrt und keinesfalls heißen soll, es gebe keine Inhalte und keine Bedeutung – der Titel einer 1960 verfaßten kurzen programmatischen Schrift, Meaningless Work, mag in seiner kalkulierten Mehrdeutigkeit leicht zu Mißverständnissen führen; liest man den Text aufmerksam, so wird klar, daß er nicht auf die Bedeutungslosigkeit von Kunstwerken gemünzt ist, sondern auf die neue Kunstform des happening und somit der Titel im Deutschen mit ›Sinnlose Arbeit‹ wiederzugeben ist. »Meaningless work is obviously the most important and significant art form today« postuliert der Text und beschreibt den künstlerischen Akt als Tätigkeit, die nichts anderes zum Ziel haben soll, als eben das Kunstwerk zu sein – Kunstwerk jenseits der Mimesis und der Abbildhaftigkeit, jenseits des Bildes. Zur Bedeutung (›content‹) von Kunstwerken äußert er sich im Interview ganz eindeutig: »I mean I think that art should have content, for there’s no such thing as pure form, no such thing. Like there was always content to all of the abstract expressionist work no matter how much they claimed it was pure abstraction.« — »I mean every good work should have at least ten meanings, I mean truly. If you have only one meaning … in fact I think that’s probably where hard edge painting and hard edge sculpture failed. It seemed to have no more than two or three meanings. You’ve got to have ten meanings, I mean like think of the hard edge sculpture. You look at it, you get that plain red, yellow or blue, you get the plain geometric content, you get the combination of those two things and you get maybe the massiveness of it, maybe that’s four things, but that’s only four. That’s far short of being a successful work. […] There’s not much [ambiguity in it], no, there’s not much really playing. I mean I don’t even think it gets the basic larger aspects of the strangeness of the meaning of geometry. So I would say that there’s at least ten meanings in any one of my works.«

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