Perspektive bei Walter De Maria – Teil 5

»…lines traveling out to infinite points…«
Beobachtungen zur Perspektive im Werk von Walter De Maria
Ein Essay in zehn Lieferungen
5.: The Broken Kilometer
 

Vor dem Hintergrund dieser Aussage fällt es nicht allzu schwer, dem bisher Gesagten zumindest eine gewisse Plausibilität zuzugestehen. Denn obwohl der Einspruch berechtigt ist, die perspektivischen Eigenheiten von Apollo’s Ecstasy seien ja ohne weiteres auch als unbeabsichtigte Folgen gänzlich anderer Intentionen zu erklären, läßt sich das Beharren des Künstlers auf die Vieldeutigkeit (ambiguity) und die Bedeutungsvielfalt ja als Hinweis darauf verstehen, daß in den auf denkbar einfache Elemente und Konstellationen reduzierten Kunstwerken eine überraschende Anzahl von Bedeutungsfacetten zu einem konsistenten Knoten geschürzt sei.

The Broken Kilometer. Photo Jon Abbott, © Estate of Walter De Maria


Doch sind die im Vorigen aufgezeigten Eigenschaften und Eigenheiten ja im Kunstwerk selbst zu sehen und somit als positiver Befund nicht von der Hand zu weisen. Der Blick auf andere Arbeiten des Künstlers wird hier weiteren Aufschluß geben können. Zunächst ein Apollo’s Ecstasy verwandtes Werk, The Broken Kilometer, elf Jahre zuvor entstanden, finanziert und bis heute unterhalten von der Dia Art Foundation, deren damaliger Direktor, Heiner Friedrich, Walter De Marias Galerist in München gewesen war. Das Werk besteht aus 500 je zwei Meter langen Messingstäben von fünf Zentimetern Durchmesser, die in fünf parallelen Reihen zu je hundert Stäben orthogonal zur Raumachse gelegt sind. Die Abstände der Stäbe variieren: sie nehmen von Zeile zu Zeile um fünf Millimeter zu, betragen zwischen den beiden ersten 80 Millimeter, zwischen den beiden letzten 570, dem Betrachter erscheinen sie jedoch als gleich, da im Gegensatz zu Apollo’s Ecstasy der Broken Kilometer nicht umgangen, sondern nur von der Stirnseite des Feldes aus betrachtet werde kann – ein Umstand, der, bei aller offensichtlicher Distanz, ein wenig an Duchamps Étant donnés… und seine explizite Ausein­andersetzung mit der Perspektive erinnert. Ähnlich wie in diesem trompe-l’œil bleiben auch beim Broken Kilometer die perspektivische Technik und die wahren geometrischen Verhältnisse verborgen, doch spielen ihre Auswirkungen eine gewichtige, wenn nicht gar entscheidende Rolle, was die Wahrnehmung des Kunstwerks betrifft. Abermals läßt sich ein perspektivischer Konflikt konstatieren, der daraus resultiert, daß die in die Tiefe führenden Linien des Raums und die gleichfalls in die Tiefe führenden Begrenzungen der einzelnen Streifen einem gemeinsamen orthogonalen System folgen – dem orthogonalen System Brunelleschis und Albertis – daß jedoch, bedingt durch die für den Betrachter nicht erkennbare Zunahme der Abstände der Stäbe, sich für jedes Segment mit gleicher Stabanzahl ein anderer Distanzpunkt ergibt, mit dem Effekt, daß die von den Stäben gebildeten Flächen mit zunehmender Entfernung vom Betrachter anzusteigen scheinen – wo doch gleichzeitig die Grundfläche ganz unzweideutig als horizontal ausgewiesen ist.

The Broken Kilometer. Distanzpunkt für quadratische Felder gleicher Größe.
The Broken Kilometer. ›Distanzpunkte‹ für Felder mit gleicher Stabanzahl.
(Geometrisch genau genommen ist diese virtuelle Fläche leicht gewölbt, da die Zunahme der Abstände linear und nicht proportional erfolgt.) Auch hier handelt es sich somit keineswegs um ein trompe-l’œil im Sinne etwa eines illusionistischen perspektivischen Bühnenbilds, sondern um eine unterschwellige Irritation, eine Destabilisierung des Gewohnten und Verläßlichen: Die Informationen, die das Kunstwerk selbst gibt, mehr noch in seiner Verbindung mit der Geometrie des Raums, sind widersprüchlich und lassen sich nicht in ein konsistentes räumliches Modell überführen.
Der Eindruck, den der Broken Kilometer auf den Betrachter macht, ist ein außerordentlicher, und es ist eine ganze Reihe unterschiedlicher Faktoren, die hierzu beitragen; neben der schieren Größe, der spezifischen Materialität und der befremdlichen Simplizität des Werks ist es zweifelsohne die Präzision der Lichtführung, die durch den mit dem Abstand vom Betrachter zunehmenden Glanz der Metalloberflächen bei gleichzeitig abnehmender Raumhelligkeit eine ganz eigene, der atmosphärischen Perspektive der Malerei unmittelbar vergleichbare Art von Raumtiefe herstellt. Mehr jedoch noch ist es zweifelsohne die kaum wahrnehmbare Instabilität des Raums, die für diese ganz eigentümliche Erfahrung des Konfrontiertseins verantwortlich ist. Freilich scheint eine solche Zerlegung in Einzelaspekte in mancher Hinsicht fragwürdig bei einem Kunstwerk, bei dem ob der äußersten Konzentration und Sublimierung eigentlich kein isolierbarer Einzelaspekt mehr sein kann. Auch ist der Begriff ›Konfrontation‹ in mancher Hinsicht irreführend; selbst hier, wo der Betrachter dem Kunstwerk tatsächlich gegenübersteht, sieht er sich dennoch einbezogen, und dies in einer Weise, die an Radikalität und damit auch an Intensität kaum zu überbieten sein wird. Tatsächlich findet sich der Betrachter im Werk selbst: Er schafft im Akt der Betrachtung für die Stäbe und sich selbst den gemeinsamen, exklusiven Raum, der gewissermaßen ›aus der Welt fällt‹, indem er ein beunruhigend anderer ist. Dieser Raum ensteht nur durch die Betrachtung, und er existiert nur in der Betrachtung. Die exklusive Intensität einer kaum anders denn als existenziell zu bezeichnenden Erfahrung liegt fraglos in der Absicht des Künstlers; in seinem hier mehrfach zitierten Interview von 1972 könnte er expliziter kaum sein: »And in actual fact, if, when a person is looking at painting or sculpture and you’re not participating in it even to the level that you participate in music when you’re hearing it, I mean if you’re hearing it as background music, then it’s background music; if you’re walking through the Whitney Museum and you’re just glancing at things out of the side of your eye, then it’s background painting, and if you look at painting and you’re only saying, ah, it’s this style or that style, it’s nothing. Unfortunately that’s probably the way 98 or 99 percent of art is experienced: as category, as sort of intellectual judgments. If you actually aren’t carried away, if you actually aren’t physically moved and you know, like, you know, just, you know, fearing for your life and sanity, then it’s almost like not »working«. That’s the Fifties phrase: »working«. Does the painting work? Like, if you actually don’t lose your breath, if you don’t lie down and die, if you actually aren’t run out of the place, you know, if your heart rate doesn’t go up, if you actually don’t lose your breath…. […] If it doesn’t fulfill those simple requirements, if it doesn’t even give you the feeling you’d have swimming in the ocean or riding a horse, or any of the heavy drug experience you might have, if it doesn’t match any very important massive, powerful experience you’ve had in your life, then it isn’t a real work.«
Intensität und Exklusivität der Erfahrung sind also zugleich Ziel und Legitimation des Kunstwerks. Ein gut bestücktes Arsenal wird hierfür aufgefahren, in dem die radikale Einfachheit, die kalte Makellosigkeit, die Unauflösbarkeit der Rätsel, die Irritation, die Beunruhigung, die Empfindung des Schönen ihre Plätze haben – und nicht zuletzt ein stets präsentes, mehr oder minder deutliches Gefühl von Gefahr (das Time Magazine betitelte 1969 einen Bericht über Walter De Maria mit High Priest of Danger). Sie alle sind nicht als Resultate zu verstehen, nicht als etwas, worauf das Kunstwerk abzielte, sondern als die Mittel, mit denen es geschaffen wird – jenseits der technischen Mittel so etwas wie Mittel zweiter Ordnung. In diesem Sinn soll also das Kunstwerk nicht etwa den Eindruck von Schönheit oder den von Gefahr vermitteln, sondern es ist nach einer Aussage des Künstlers das Zusammentreffen beider, das eine gesteigerte Schönheit hervorbringt, die die ›normale‹ Schönheit übertrifft – und die, so könnte man sagen, in der Gleichzeitigkeit von Genauigkeit und Sich-Entziehen den Bereich aufschließt, der einzig dem Kunstwerk vorbehalten ist. Unausgesprochen tritt hier das Erhabene ins Bild – weniger nach dem Verständnis des deutschen Idealismus als in der englischen Konzeption des sublime, das in seiner erschreckenden, schaudern machenden Schönheit nicht ohne Furcht und Ehrfurcht betrachtet werden kann. Ohne den Begriff des sublime zumindest versuchs- oder hilfsweise zu bemühen, dürfte sich das Werk Walter De Marias nicht leicht erschließen.

Sicherlich kann man zurecht sagen, daß im Arsenal der Mittel auch dem Raum, der das Kunstwerk umgibt und der es behaust, ein prominenter Platz zugewiesen ist. Zum einen läßt sich dies auf eher technische Aspekte beziehen und ist so nichts Ungewöhnliches, doch ist dem Raum in anderer Hinsicht eine viel bedeutendere Rolle zugedacht, indem er tatsächlich in einem ganz ausgeprägten Sinn zum Akteur, wenn man dieses Wort verwenden will, des Kunstwerks wird, gleichbedeutend und ja eigentlich gar nicht zu trennen von dem, was man als dessen Stoff bezeichnen könnte. Am offensichtlichsten wird dies bei den großen Arbeiten in der Landschaft. Dies war dem Künstler eine seiner wenigen programmatischen Aussagen wert, in einem 1980 im artforum publizierten Text zum Lightning Field, wo er eingangs schreibt: »The land is not the setting for the work but a part of the work.«