Perspektive bei Walter De Maria – Teil 7

»…lines traveling out to infinite points…«
Beobachtungen zur Perspektive im Werk von Walter De Maria
Ein Essay in zehn Lieferungen

7.: Mile Long Parallel Walls in the Desert

Auf seinem Weg zwischen den Walls in the Desert sieht sich der Besucher nun der Erbarmungslosigkeit der Zentralperspektive ausgesetzt, die ihm, ein eindimensionales Labyrinth, keinen Ausgang oder Ausweg zeigt. Das Außen ist in seiner Verborgenheit in erhöhter Präsenz gegenwärtig, seine Sichtbarkeit beschränkt oder konzentriert auf den Himmel. Dieser Himmel ist das einzige, das sich, außer der 1st person selbst, während des halbstündigen Gangs wird verändern können. Gegen Ende erscheint dann dort, wo zuvor der Fluchtpunkt war, in einer Art perspektivischem accellerando erneut die Landschaft, wie eine Erscheinung, einer Epiphanie gleich, und so eine andere geworden – der Besucher ist gleichsam »an einem anderen Ort«, wie es bei Hebel so beunruhigend heißt. — Er geht nun in der Richtung der Mauern geradeaus weiter, um schließlich an einem festgelegten Punkt das Auto zu erreichen, das in der Zwischenzeit von einer second person, wie die genannte Zeichnung festlegt, dorthin gefahren wurde. Vor dem Hintergrund zweier später Arbeiten, Bel Air Trilogy, 2000-2011 und Truck Trilogy, 2011-2017, in denen Autos eine tragende Rolle spielen, wird deutlich, daß auch hier der second person, ihrer Bewegung und dem Auto selbst eine alles andere als dienende Bedeutung zugedacht ist. — Die Summe der unterschiedlichen Bewegungen ist also als Dreieck festgelegt, für das indes keine geometrische Spezifikation definiert ist – ein Dreieck, das sich aus drei gänzlich unterschiedlichen Schenkeln bildet.

Desert Walk – Walls in the Desert‹, 1964. The Gilbert B. and Lila Silverman Instruction Drawing Collection Gift, Detroit. ©Estate of Walter De Maria

Gelegentlich findet sich, wenn von den Mile-Long Parallel Walls in the Desert die Rede ist, der Schwerpunkt auf die Sensation des Wiederauftauchens der Landschaft gelegt, so, als ziele das Kunstwerk zuvörderst auf dieses Moment der Krisis in der Metamorphose ab. Doch besteht kein Grund anzunehmen, das Vorangehende sei von geringerer Bedeutung, das Gefangensein in der erbarmungslosen Perspektive, die sich während der halben Stunde des Gangs zwischen den Mauern erst unmittelbar vor dessen Ende zu verändern beginnt. Der Himmel, den der Besucher einzig vom Außen wahrnimmt, wandert mit ihm mit, was des Betrachters Bewegung, die er ja aktiv betreibt und nicht anzweifeln kann, in der gleichbleibenden Perspektive aufhebt. Abermals findet sich hier also die Gleichzeitigkeit unvereinbarer Wahrnehmungen – nebenbei bemerkt auch ein Grund- oder Leitmotiv des Manierismus, oder, allgemeiner gesagt, des Romantischen, in einem Werk, das sich doch wie wenig anderes in seiner radikalen Ökonomie und Erfaßbarkeit in vollständiger Konsistenz und Unverborgenheit darbietet, eben ganz und gar nicht confused with a lot of needless relationships, und das in diesem Sinne wie eine Manifestation, ja Zuspitzung des Klassischen erscheint. — Die Begriffe ›klassisch‹ und ›romantisch‹ verwendet Walter De Maria mehrfach im Interview, was als Hinweis dafür genommen werden kann, daß diese Thematik für ihn von Bedeutung gewesen ist. Aufschluß gibt hier ein Satz, der nur auf den ersten Blick unpräzise zu sein scheint: »[…] in my work the form is possibly very classical and the content might be something else
Dabei ist das ›Werk‹ im Fall der Mile-Long Parallel Walls in the Desert bei aller Simplizität und Unverborgenheit keineswegs einfach zu bestimmen. Der Titel Desert Walk – Walls in the Desert, der auf einer der Zeichnungen erscheint, weist zumindest auf eine Dichotomie: Benennt die eine Hälfte eine autonome physische Präsenz des Kunstwerks, so weist die andere auf eine Aktion im Sinne eines happening, wo das Kunstwerk aus einem festgelegten Ablauf oder einer Folge von Handlungen besteht, die der hier unspezifisch als 1st person bezeichnete Besucher oder Betrachter oder Benutzer ausführt, und wo das Werk tatsächlich nur während der Dauer dieser Handlung und nur für ihn selbst existiert, in deutlicher Abgrenzung zu jeglicher performativer Kunst. — Nicht unterschlagen sei in diesem Zusammenhang eine zumindest begriffliche Affinität zum terrace walk, einem Sondertyp des frühen Englischen Landschaftsgartens.
Ein radikaler Perspektivismus, gleich demjenigen Nietzsches, läßt sich also hier wie beim Broken Kilometer konstatieren, wo alles eine Frage des Standpunkts und der Perspektive ist und wo das wahrnehmende Subjekt sich das Werk in einer sowohl perspektivischen als auch perspektivistischen Konstruktion erschafft.