Litea ist ein kleines, abgelegenes Dorf im Donaudelta (doch was wäre hier nicht abgelegen?), das sich durch eine weithin sichtbare Kirche auszeichnet, ein Bauwerk, dessen Größe in keinem Verhältnis zu den wenigen winzigen Katen der Siedlung zu stehen scheint. Der Ort selbst ist ein lockeres Straßendorf, von dem man zunächst annehmen könnte, es sei eine hier stehen gebliebene Filmkulisse, so sehr entspricht sein Bild dem, was man sich unter einem rumänischen Dorf der Dreißigerjahre des vergangenen Jahrhunderts vorstellt – ein jedes Detail stimmt, bis hin zu den mit selbstverständlicher Höflichkeit den Fremden grüßenden barfüßigen Buben auf der unbefestigten Dorfstraße, die man später auf einer Wiese mit Flitzebogen spielen sieht. In der Kirche, einem hübschen Bau, dessen Alter wir auf knapp hundert Jahre schätzen und dessen Tür unverschlossen ist, steht, im Gespräch mit einer Frau begriffen, der Priester im schwarzen Talar.
Litea ist von Lipowanern bewohnt, Altgläubigen, die sich der Reform der russisch-orthodoxen Kirche von 1654 widersetzt hatten und deshalb im ausgehenden 17. Jahrhundert Rußland verließen und in den unzugänglichen Regionen des Donaudeltas siedelten, das damals unter türkischer Herrschaft stand. Noch heute gibt es hier zahlreiche Gemeinden, in denen eine besondere Abart des Russischen gesprochen wird, angereichert mt türkischen Lehnwörtern.
Den durch und durch freundlichen Eindruck eines idyllischen Gleichmaßes vermitteln das Dorf und die wenigen Bewohner, die man zu Gesicht bekommt auf dem sandigen Weg, der sich nach beiden Richtungen verliert. Parallel zu ihm verläuft der schmale Kanal, über den einzig das Dorf erreicht werden kann und an dessen mit dichtem Schilf bestandenen Ufer die Boote der Dorfbewohner festgemacht sind, die einzigen erkennbaren Fortbewegungsmittel, Autos scheint es keine zu geben. Auch Antennen oder Satellitenschüsseln sucht man vergebens.
Einige Bäume säumen auf dem Deich den Kanal an der Dorfseite. Unter ihnen stehen nebeneinender, exponiert und doch gleichzeitig fast verstohlen, zwei Kreuze aus Eisen, deren Farbe langsam abblättert, Gräber eines jungen Mannes und einer jungen Frau, er neunzehn, sie siebzehn Jahre alt, mit identischem Todesjahr. Den Friedhof des Dorfes haben wir nicht gesehen.