Sulina und Europa

Sulina, am Rande des Kontinents im Donaudelta gelegen, bezieht seinen etwas brüchigen Charme hauptsächlich aus der romantischen Tatsache, daß die Stadt ausschließlich über das Wasser zu erreichen ist, entweder über den Sulinakanal, einen der drei Donauarme im Delta, oder vom Schwarzen Meer her. Hafen seit byzantinischer Zeit, später unter genueser, schließlich osmanischer Herrschaft, erlebte die Stadt in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ihre Hochblüte als einer der wichtigsten Häfen Rumäniens; heute ist von der Vergangenheit kaum mehr etwas zu sehen – ein heruntergekommenes Dornröschen im löchrigen Gewand, das lange aufgehört hat, auf einen Prinzen zu warten. Wo heute des nachts verwilderte Kuhherden die Hafenpromenade entlangschlendern, zeugen von den großen Tagen einzig die Hinterlassenschaften der Commission Européenne, der Europäischen Donaukommission, die hier von 1856 an bis zum Ersten Weltkrieg ihren Sitz hatte. Zwei Leuchttürme, ein neoklassizistisches Verwaltungsgebäude, wie es überall in Europa stehen könnte, und der Friedhof mit seinen unterschiedlichen, nach Nationalitäten geordneten Abteilungen sind alles, was an ein bemerkenswertes Ereignis der europäischen Geschichte erinnert, die Einrichtung besagter Donaukommission nämlich, der ersten Institution, in der sich die europäischen Staaten zusammenfanden, um ihre Interessen abzustimmen und wo sie sich erstmalig als eine Gemeinschaft verstanden. Eine Zweckgemeinschaft freilich, denn von einem ›europäischen Gedanken‹ wird man hier im 19. Jahrhundert, in den Zeiten des allenthalben aufblühenden Nationalbewußtseins, um nicht zu sagen der Nationalismen, nicht sprechen können; die Donau ist fern der Metapher in einem ausschließlich pragmatischen Sinn als Verkehrsweg aufzufassen. Wäre es also verfehlt, zu behaupten, das heutige Europa als politisches Gebilde habe von Sulina seinen Ausgang genommen, kann man sich doch an diesem verschlafenen, armseligen und heruntergekommenen Ort, vielleicht gerade, weil er aus wenig anderem als der verblassenden Erinnerung an diese eine und einzige Bedeutung besteht, einer kleinen sentimentalen Regung ob des ambivalenten Sinnbilds nicht entziehen.