WAS HEISST HIER ›INO‹?

Nein – der Vaporetto wird seinen Namen wohl kaum der »Neuinterpretation klassischer Waschtisch-Formen« verdanken, die als ›Kollektion INO‹ die Zukunft der Sanitärkeramik einläuten soll – auch wenn hier die Bezüge zum Schiff kaum evidenter sein könnten: »elegant, einladend und nahezu schwerelos« sei die Wirkung, und die Rede ist von der »schlichten Linienführung sowie den zarten und dennoch extrem stabilen Wandungen « – besser ließe sich der Vaporetto kaum beschreiben, oder zumindest nicht sein Bild in der Vorstellung der INOnauten – seine platonische Idee gewissermaßen (Ideal & Wirklichkeit: »In stiller Nacht & monogamen Betten…«).

Auch wird die bekannte japanische Mangafigur nicht als Quelle herhalten können, selbst wenn sie sich in Cosplayer-Kreisen großer Beliebtheit zu erfreuen scheint, nach der beeindruckenden Menge an Kostümangeboten zu schließen. Bemerkenswerterweise verfügt sie nicht nur über ein Ich, sondern sogar über ein ›Inneres Ich‹, mit dem man indes nicht gerne Bekanntschaft schließen möchte, nach allem, was man von ihm hört.

Näher liegt die Vermutung, der Name INO sei einer anderen, ursprünglicheren Mythologie entnommen, in der es indes nicht weniger heroisch und auch nicht weniger gewalttätig, dafür aber ganz ohne jede Sentimentalität zugeht.

Vier Töchter hatten Kadmos, der Drachentöter, König von Theben, und seine Frau Harmonia, die Tochter des Ares und der Aphrodite – nahe bei den Göttern sind wir also noch –: Semele, mit der Zeus den Dionysos zeugte und die in Flammen aufging, als sich ihr der Geliebte auf ihr törichtes, von Hera aus Rachsucht geschürtes Verlangen hin in seinem göttlichen Glanz offenbarte, Autonoë, die die verstreuten Knochen ihres Sohnes Aktäon zusammenlesen mußte, nachdem dieser von seinen eigenen Hunden zerrissen worden war, Agaue, die im mänadischen Wahn den Pentheus, ihren Sohn, zerriß, glaubend, es handle sich um einen jungen Berglöwen, und die sein Haupt in triumphaler Verblendung nach Theben trug, und eben die Ino. Von einem Bruder der vier wird noch berichtet, Polydoros, dem Urgroßvater des Oedipus. — Dionysos ist nah, und in seiner Nähe ist auch die Tragödie nah.


Pentheus wird von Agaue und Ino zerrissen. Deckel einer attischen rotfigurigen Lekanis,
ca. 450-425 v. Chr.    Paris, Musée du Louvre

Vielfältig sind die Erzählungen, die sich um die Gestalt der Ino ranken; Apollodor bezichtigt sie einer üblen Intrige (Bibliotheke 1.9.1-2), Nonnos von Panopolis widmetsich ausführlich ihren Verstrickungen in den Dionysos-Mythos (Dionysiaka 9.37-150, 9.243ff., 10.1-125), Euripides’ verlorengegangene Tragödie »Ino« schildert ihren Wahnsinn als bakchische Raserei, bei Pausanias findet sich der Bericht ihres Suizids durch Sturz ins Meer vom Molurischen Felsen (Beschreibung Griechenlands 1.44.7-8), Ovid schildert die Aufnahme unter die Meergötter (Metamorphosen 4.480ff.). In so vergöttlichter Gestalt läßt Homer sie unter dem Namen Leukothea (»die helle Göttin«) dem schiffbrüchigen Odysseus erscheinen, dem mithilfe ihres Schleiers die Rettung ans Gestadeder Phäaken gelingt (Odyssee 5.332ff.). Nach Hyginus (Fabulæ 2) ist sie diejenigeGöttin, die von den Römern Mater Matuta genannt wird, die Göttin des Frühlichts, der Geburt und des Wachstums und somit auch hier dem Dionysos nicht fern. Gustav Schwab verkürzt all dies auf die mythologieferne sprichwörtliche »böse Stiefmutter« – »böse Mutter« wäre indes nicht weniger richtig, denn die Erzählungen stimmen darin überein, daß Ino den Melikertes, ihren Sohn, in einem Kessel mit kochendem Wasser tötete – ein Motiv, das an das Zerstückeln und Sieden des neugeborenen Dionysos durch die Titanen denken läßt. — Mord, Verrat, Intrige, Wahnsinn, gepaart mit unmittelbarer Teilhabe an Göttlichem: das Garn, aus dem der Mythos gestrickt oder besser gewoben ist.

Versuchen wir, aus den teils disparaten Berichten einen konsistenten Strang herauszulesen, so ergeben sich, mit zahlreichen Varianten, die folgenden Erzählungen: Ino, die Schwester der Semele, der zweiten Mutter des Dionysos, habe sich nach deren Tod des mutterlosen Kindes angenommen und es in einer Höhle an der lakonischen Küste als Amme betreut, zusammen mit ihrem eigenen Sohn Melikertes. In einem anderen Erzählstrang ist sie die zweite Gemahlin des Königs Athamas, mit dem gemeinsam sie den jungen Gott als Mädchen erzieht, um ihn vor den eifersüchtigen Nachstellungen Heras zu schützen. Die Gattin des Zeus rächt sich und läßt die beiden in Raserei verfallen, worauf der König den älteren gemeinsamen Sohn, Learchos, wie einen Hirsch auf der Jagd erlegt, Ino sich aber mit Melikertes, dem jüngeren, ins Meer stürzt, nachdem sie ihn zuvor, wie berichtet, gesotten hatte. Eine andere Version des Mythos führt zu demselben Ergebnis: Ino setzt hier alles daran, die beiden Kinder aus der ersten Ehe ihres Gatten durch eine preiswürdige Intrige aus der Welt zu schaffen: Die böotischen Frauen überredet sie, das Saatgut zu dörren, denn die hieraus folgende Hungersnot würde, so ihr Kalkül, den König veranlassen, das delphische Orakel um Hilfe zu befragen. Seinen Boten hatte sie bestochen, damit er ihm die Weissagung überbrächte, die Unfruchtbarkeit könne durch die Opferung seines Sohnes Phrixos beendet werden. Der Anschlag blieb indes nicht lange verborgen, worauf sich das Verhältnis der Eheleute naturgemäß nicht zum besten gestaltete. Wieder also Raserei, Hirschjagd, Sieden und Meeressturz, was jedoch nicht das Ende der Geschichte der Ino ist: Sie und Melikertes werden unter die Meergötter aufgenommen, wo sie nun als Leukothea und Palaimon über die Häfen wachen und den Schiffbrüchigen beistehen.


Leukothea gibt dem schiffbrüchigen Odysseus ihren Schleier. Aus: L’Odyssée d’Homère gravée par Réveil d’après les compositions de John Flaxman Radierung, 1835

Das ist alles sehr schön. Aber warum soll denn das Schiff jetzt INO heißen?

Nun, das hängt mit Agaue zusammen. Ursprünglich war nämlich vorgesehen, ein Schwein mit an Bord zu nehmen, nach altem phönizischem Seefahrerbrauch. Dieses
Schwein sollte auf den Namen ›Agaue‹ hören, was nebenbei bemerkt auf Deutsch »die Verehrungswürdige« heißt. Agaue, wie oben erwähnt, wurde von Dionysos, der Grund hatte, sich wegen der Verleumdung ihrer Schwester, seiner Mutter Semele, an ihr zu rächen, mit mänadischer Raserei geschlagen (schon wieder!), in der sie ihren Sohn Pentheus bei lebendigem Leib zerriß – Ovid schildert dies recht plastisch in den Metamorphosen (3.370-733). Auf das Bordschwein wird unter Bedauern verzichtet werden müssen – zu unkalkulierbar sind die Umstände, die sich aus dem Versuch ergeben könnten, ein Schwein aus der EU in die Türkei einzuführen. So wird wohl auch nichts aus den geplanten täglichen Communiqués mit dem Titel ›AGAUE DAILY‹ . Doch rührt aus der Agauenzeit noch der Entschluß, den Vaporetto passend zum Schwein eben ›INO‹ zu nennen, nach der Schwester. So einfach ist das. [fb]

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