Der 25. März war einer der zahllosen, in den letzten Jahren inflationär angestiegenen Aktionstage, wie sie in aller Regel ausgerufen werden, um uns moralisch oder wirtschaftlich oder moralisch und wirtschaftlich unter Druck zu setzen. Der Gedenk- und Aktionstagsstau ist inzwischen so groß geworden, daß, wie bei den Heiligen, sich oft ein ganzes Rudel einen einzigen der unglücklicherweise auf die Zahl von 365 beschränkten Tage des Jahres teilen muß – der berechtigten Anliegen sind halt gar viele. Hier ist nun mit dem oben genannten Datum nicht der vom ›Bundesindustrieverband Technische Gebäudeausrüstung‹ für den letzten Märzsonntag ausgerufene Tag der Gebäudetechnik gemeint, nicht der in Griechenland gefeierte Tag der Revolution (der an den Beginn des Aufstands von 1821 erinnert, in dem Lord Byron, the most flamboyant and notorious of the major Romantics, als glühender Philhellene Anhänger des griechischen Freiheitskampfes, sein Leben verlieren sollte, nicht jedoch auf dem Schlachtfeld, sondern durch einen Aderlaß, der ihm infolge einer Unterkühlung appliziert wurde), nicht der Maryland Day, der an die 1634 erfolgte Ankunft der ersten Siedler in dem nach der hl. Jungfrau benannten amerikanischen Bundesstaat erinnert (dessen Motto fatti maschii parole femine lautet), auch nicht der Tag der Verkündigung des Herrn, sondern die Earth Hour, die am vorletzten oder letzten Sonntag im März von halb neun bis halb zehn Uhr abends ausgerufen wird und während der wir gehalten sind, das Licht auszuschalten, um zur Rettung der Welt beizutragen. Prominente Gebäude gehen mit gutem Beispiel voran: Die Beleuchtung der Pyramiden wird ausgeknipst, der Kreml fällt in das gleiche Dunkel wie die Kuppel der Peterskirche oder das Brandenburger Tor, und Sabine Heiser, die um 20.30 gerade auf dem Rückweg von Portugal über Paris flog, sah nach und nach die Lichter des Eiffelturms ausgehen. Ob Venedig sich an dieser Aktion beteiligte, war von unserem Standort aus nicht auszumachen, die Werften, Containerlager und Raffinerien in Marghera jedoch erstrahlten im gewohnten Glanz und kümmerten sich einen feuchten Kehricht um die ganze Angelegenheit. Was eigentlich schade war: Nach all den Tagen sprühender Lichterpracht (»Was stört so schrill die stille Nacht / Was sprüht der Lüster Lichterpracht? / Das ist das Fest des Wüstlings«, wie Morgenstern so schön dichtet), nach all diesen Nächten festlicher Illumination und harten Glanzes hätte man sich einmal einen Schleier weicher Dunkelheit gewünscht, der sich über das alles herabsenkte und es umhüllte, wenigstens für eine kurze Stunde. — Merkwürdig, zu denken, daß uns dies Erleben des Dunkels ein Luxus sein würde, wo doch der Inbegriff des Luxuriösen jahrhundertelang gerade in einer Überfülle nächtlichen Lichts bestanden hatte und die Baumeister der Schlösser und Paläste, wie wir vermuten können, bei der Planung sich um die künstliche und kunstvolle nächtliche Illumination nicht weniger gekümmert haben mögen als um die Erscheinung und Wirkung der Gebäude bei Tageslicht. Eine andere Erkenntnis dämmert uns freilich: Daß Wirkung und Erscheinung der Bauwerke bei Dunkelheit auch etwas sein könnte, das den alten Architekten ein Anliegen war und daß diese so ganz anders geartete Wahrnehmung vielleicht mit großer Sorgfalt ins Werk gesetzt worden wäre. Denn tatsächlich kann man nicht einfach sagen, daß ohne Tageslicht bloß Manches unsichtbar bliebe – in Wirklichkeit ist es so, daß Einiges erst mit dem schwindenden Zwielicht sichtbar wird und daß Einem bei nächtlicher Betrachtung in mancher Hinsicht erst so recht ein Licht aufgeht. (Corbusier sang das Hohelied der Kathedralen bei Nacht und versuchte, deren Eigentümlichkeit in Skizzen festzuhalten.) Im vergangenen Spätsommer verbrachten wir einige Tage auf Torcello, wo wir das Gefühl hatten, zumindest während der Nacht die einzigen Menschen weit und breit zu sein (tatsächlich zählt die Insel noch 14 Bewohner). Zwei unserer Fenster gaben hinweg über den sorgfältig gepflegten Rosengarten der locanda, in der wir untergekommen waren, den Blick frei auf die beiden noch verbliebenen der ehemals zahlreichen Kirchen der Insel, den Zentralbau von Santa Fosca und die Basilika Santa Maria Assunta, diese im 7., jene im 11. Jahrhundert erbaut, als Torcello größer, reicher und bedeutender war als Venedig. Nicht eine einzige Lampe erhellte die Insel. Mit allmählich verebbendem Tageslicht gewannen die Gebäudemassen eine ungeheure plastische Präsenz, die mit dem langsamen Verschwinden der Differenzierung und der zunehmenden Dominanz von Kontur und Fläche nicht abnahm, sondern sich noch steigerte und die schwarze Masse in ein dunkles Leuchten versetzte, wie das Glühen von Metall dem Innern des Stoffs selbst entspringend. — Ist die Architektur etwa erst bei Dunkelheit ganz bei sich selbst?
Novalis schreibt: »Himmlischer, als jene blitzenden Sterne, dünken uns die unendlichen Augen, die die Nacht in uns geöffnet.« [fb]