Eines der liebsten Kunstwerke in Venedig ist mir, seit ich sie zum ersten Mal sah, immer Francesco di Giorgio Martinis Kreuzabnahme in Santa Maria del Carmine gewesen, gleich mir ein Fremdling in Venedig, der hier ein etwas eigenbrötlerisches Dasein fristet. Wie vieles andere in der Stadt verdankt die Bronzeplatte ihr Hiersein einem Raubzug, doch ungleich etwa dem Leichnam des hl. Markus, den Tetrarchen oder der Quadriga ist sie nicht ins Gewebe der Stadt eingefügt, nicht in das rhetorische Geflecht des Selbstverständnisses und der Repräsentation vereinnahmt worden.
Eigentlich gehört sie nach Urbino, wo sie entstand und wie es auch die beiden Stifterfiguren am rechten Rand deutlich machen, Federigo da Montefeltro, unverkennbar durch sein Profil, und sein Sohn Guidobaldo. Von Urbino aus dem Oratorio della Santa Croce im Zuge der napoleonischen Beutezüge nach Mailand verschleppt, wurde das Relief von Baron Giacomo Malgrani erworben und 1852 der Carminekirche geschenkt, zu einem Zeitpunkt, als es kein venezianisches Staatswesen mehr gab, das wie im Mittelalter durch Erbeutetes seine Bedeutung hätte unterfüttern können. Vielleicht hängt es damit zusammen, daß das Werk eine Art Dornröschendasein fristet – selbst Reiseführer, die penibel jedes Altarbild aufführen, verzichten auf seine Erwähnung. Dabei handelt es sich um eines der Meisterwerke der Kunst des quattrocento, 1474 entstanden und in seiner Kühnheit, seiner Konsequenz und seiner Ökonomie den Reliefs der großen Florentiner an die Seite zu stellen. Man scheint nun beschlossen zu haben, die deposizione in ein günstigeres, ihr angemesseneres und vor allem helleres Licht zu rücken.
Von ihrem angestammten, recht bescheidenen Platz an der Seitenwand der rechten Apsis, wo man sich nicht gerade mit der Nase auf sie gestoßen fand, wurde sie kürzlich an den dritten Seitenaltar auf der Nordseite verpflanzt und findet sich nun statt auf der Wandfläche montiert frei in den Raum gestellt, elegant in leichter Schrägstellung zwischen zwei schmucklosen, mit Eisenglimmer lackierten Stelzen, deren ans Ärmliche grenzende Schlichtheit sich wirkungsvoll vom Kunstwerk absetzt. Das Ganze effektvoll sehr kontrastreich ins Licht gesetzt, von rechts unten.
Verblüffendes kommt hier ans Tageslicht – oder genauer ans Kunstlicht: In ganz unerwarteter Zeitgenossenschaft findet sich nun das Werk, leicht zu verwechseln mit den Erzeugnissen aktueller Kirchenkunstproduktion, wie man sie zuhauf in Rom in den einschlägigen Kaufhäusern hinterm Pantheon ausgestellt sieht – dort nämlich findet der fromme Kirchenmann alles, was er zum Betrieb seines Gotteshauses braucht, vom Pedum bis zum überlebensgroßen Padre Pio. Zur Belanglosigkeit ist die deposizione verurteilt, und selbst der eingefleischteste Atheist wird in die dargestellten Bekundungen von Trauer und Verzweiflung ohne weiteres einstimmen können ob der barbarischen Pietätlosigkeit, mit der er sich hier konfrontiert sieht. Denn nichts ist mehr zu spüren von der überwältigenden Plastizität, die organisierte Bewegtheit, die die Posituren der einzelnen Figuren in eine grandiose Spirale um die Achse des Kreuzes faßt, ist zum wirren Gewimmel eines bethlehemitischen Kindermords verkommen. Verschwunden ist die Genauigkeit, mit der die Plastizität systematisch aus der Fläche bis zur Vollplastik heraus entwickelt ist – aus einer radikalen Fläche, die als Hintergrund zu bezeichnen man sich scheut –, verschwunden die Klarheit, mit der das Eigentümliche der Reliefkunst methodisch ausgelotet wird, das Skizzenhafte der mit äußerster Ökonomie auf das Notwendige konzentrierten Oberflächen (Tizian wird solches in seinen reifen Jahren für die Malerei ausloten), die Materialität und ihr genaues Spiel mit differenziertesten Lichtern und Schatten, – sie alle sind verschwunden, ohne Spuren zu hinterlassen.
Freilich ist das Werk selbst noch intakt; es wieder an seinen alten Standort zu bringen, solide auf die Wand zu montieren und auf künstliche Beleuchtung zu verzichten wäre keine große Sache. Der Skandal ist indes kein geringerer: Das Empörende und Verstörende liegt in dem, was die Voraussetzung schafft, liegt in der Haltung der für solche ikonoklastischen Akte Verantwortlichen, liegt in der um sich greifenden und beileibe nicht nur hier zu konstatierenden Ignoranz derjenigen, deren Obhut die Kunstwerke übergeben sind, in ihrer kaum anders denn als bösartig zu bezeichnenden rücksichtslosen Abgestumpftheit.
[fb]