Lärm

Eine Nacht in der Einfahrt zur Marina in Jesolo, festgemacht neben den großen bilancie, den Senknetzen der Fischer, unweit des Leuchtturms, was alles sich recht romantisch anhört – eine solche Nacht also gibt einem einen Vorgeschmack auf die Vorhölle, oder auf schlimmeres. Vis-à-vis der Idylle nämlich hat sich eine Stranddiskothek eingenistet, die während der sechs Stunden vor Mitternacht einen ganz unfaßbaren Lärm produziert. Und wäre nicht schon die schiere Lautstärke Grund genug für eine Anzeige wegen Körperverletzung, so gesellt sich noch die tatsächlich unermeßliche Niveaulosigkeit der Musik hinzu, die nicht anders denn für eine schwerwiegende Beleidigung genommen werden kann. Um einen Eindruck von dem zu ermitteln, das sich hier Musik nennt: Keine Melodik ist auszumachen, auch keine Rhythmik, noch gar ist etwas zu erkennen, das an Akkordfolgen etwa im Sinne einer Kadenz auch nur leise erinnern würde – belämmert und behämmert wird der Zuhörer mit nichts als endlosen Wiederholungen kleinster entwicklungsloser Fragmente, denen allenfalls hin und wieder durch einfallslose technische Griffe eine Art von Kippbildeffekt übergestülpt wird. Nicht anders verhält es sich mit dem, was einstens einmal als Text bezeichnet wurde: Mehr als drei Worte scheinen die Kapazität von Discjockey wie Publikum zu übersteigen, doch werden diese drei dafür stets mehrere hundert Male wiederholt. – Mag hier keiner sich verleiten lassen, zaghaft seinen Zeigefinger zu erheben und leise »minimal music« zu rufen: Um solches geht es beim besten Willen nicht.

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In letzter Zeit wurde offenbar das Konzept der Kaufhausmusik in den sakralen Raum hinein ausgeweitet. Zunehmend sieht man sich nämlich in Kirchen mit Konservenmusik konfrontiert, weichgespülter Gregorianik zumeist, doch auch der Frühbarock scheint sich zu eignen, den Kirchenbesucher, der seine kurze Hose offenbar nicht für unangemessen und es auch nicht für nötig hält, die Baseballkappe abzunehmen, mithilfe der sowieso in den Gotteshäusern omnipräsenten Lautsprecher in eine ortstypisch pietätvolle Stimmung zu versetzen. So auch neuerdings in San Giorgio Maggiore, wo nun dem religiösen Empfinden durch den erwähnten Frühbarock ein wenig auf die Sprünge geholfen wird. Denn wie im Kaufhaus scheint die rechte Gemütslage auch im schönsten Gotteshaus ohne easy listening nicht in die Gänge kommen zu wollen – eine andere Art von lift music. Merkwürdig nur, daß sich die angestrebte Innerlichkeit trotzdem nicht einstellen will – was vielleicht auch an Palladios Bau liegen mag, der es ganz und gar nicht auf Innerlichkeit anzulegen scheint, und vielleicht auch mit einem Unbehagen, das sich aus der Konfrontation einer unmittelbar erfahrenen Architektur mit der zu beiläufiger Untermalung degradierten Musik speist. Gravierender ist jedoch etwas anderes. Eignet der Musik grundlegend und grundsätzlich Raumbildendes, Raumeröffnendes – nicht zuletzt die venezianische Mehrchörigkeit führt dies ja exemplarisch vor –, so ist hier das genaue Gegenteil zu konstatieren: Die gleichmäßig und zahleich im Raum verteilten Lautsprecher, deren akustische Ausgewogenheit die Hand des Fachmanns zu verraten scheint, beziehen mit der Richtungslosigkeit des Klangs und der Unmöglichkeit, eine Klangquelle auszumachen, tatsächlich Position gegen die Wahrnehmung des Raums, ja gegen seine Wahrnehmbarkeit, unterbinden das Zusammenspiel von optischen und akustischen Eindrücken, das ihn offenkundig konstituiert. Denn verblüffend war die Deutlichkeit, mit der dieser Raum nun von dem vertrauten, konservenmusiklosen abstach, gravierend die Beeinträchtigung, die er erfuhr, und unerwartet, wie sehr er in der Entfaltung seiner Präsenz behindert wurde. Und es war auch gleich die Probe aufs Exempel zu machen: Eine freundliche Dame, als Zuständige für Postkarten und ähnliches auch Herrin der Verstärkeranlage, war gerne bereit, unserer Bitte zu entsprechen und schaltete die Musik aus. — Und siehe, es war alles gut.
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Nachtrag aus Umag: Auch bei der Kirche hier im Ort soll dem nicht allzu sehenswerten Inneren, dessen etwas gewöhnungsbedürftig restaurierter Barock nicht eben von kompetentem Denkmalschutz zeugt, durch Beschallung auf die Sprünge geholfen werden – nur, daß das, was hier den Lautsprechern entquillt, in musikalischer Hinsicht durchaus diskothekenfähig wäre, allerdings wohl nur für eine Disco im Altersheim.
[fb]