Vier europäische Ereignisse, die für sich beanspruchten, die aktuelle Lage der Welt mit den Mitteln der Kunst schlüssig zu erfassen – die Biennalen in Venedig und Istanbul, die documenta in Kassel & in Athen, sowie das Skulpturenprojekt Münster – vermochten es weder einzeln noch in ihrer gesamten Fülle, ein hinreichendes Bild der Verhältnisse zu vermitteln, nämlich die Orte und Positionen, die Ausdehnungen und die räumlichen Parameter der Wahrnehmung in ihren möglichen und vielleicht unabdingbaren Beziehungen und in ihren gegenseitigen Abhängigkeiten zu vermessen.
Europa als Handlungs- und Wahrnehmungsraum läßt sich nicht anders als durch Reisen erfassen. Der Blick des Reisenden ist notwendigerweise ein exotischer, will sagen, der Blick auf das Andere als ein Fremdes. Wäre es anders, wäre das Reisen überflüssig.
Wo sonst, als an der Schnittstelle Venedig könnte sinnigerweise eine Reise beginnen, die es sich zum Ziel setzt, dem Raum Europa und den Zwischenräumen nachzuspüren?
Venedig, die Stadt der Pfade, die sich durchkreuzen, die sich wie eine transitorische Erscheinung auf den Spiegel der Lagune legt, wird erschlossen und durchmessen vom vaporetto, dem an einen festen Zeit- und Routenplan gebundenen Vehikel des öffentlichen Nahverkehrs. Dem Blick des Fahrenden erscheint dabei die Stadt mit ihrer Abfolge von Bauten und Panoramen wie eine Kulisse.
Stillstand und Bewegung fallen in eins: Die Simultaneität von fahrendem Schiff und statisch dort verankertem Passagier lassen den Betrachter, vergleichbar dem an den Mast gefesselten Odysseus, die Wahrnehmung der Welt zu einem gleichsam filmischen Geschehen gerinnen, das ihm zur Passage wird. Dieses, als Konzept verstanden, soll von Venedig ausgehend auf weniger beachtete Panoramen und Landstriche Europas übertragen und ausgedehnt werden. Das Venedig-Prinzip gilt es, in einer großräumlich angelegten Versuchsanordnung an den Rändern und traditionellen Lebensadern des Kontinents fortzuführen und zu erproben.
Es ist deshalb nur konsequent, daß dies mit dem vaporetto geschieht, der Wahrnehmungsmaschine für das Narrativ der Stadt.
Mit einem vaporetto wird also die Reise von Venedig nach Berlin unternommen – eine Fahrt zum Zweck der Inaugenscheinnahme der Räume zwischen den bekannten Stationen, die neun Monate in Anspruch nehmen und durch das adriatische Meer und den Isthmus von Korinth über Athen nach Istanbul führen wird, um von dort aus durch das Schwarze Meer und donauaufwärts bis Kelheim durch das Geflecht der deutschen Flüsse und Kanäle schließlich Berlin zu erreichen. Um die 9000 Kilometer werden dann zurückgelegt und 17 Länder durchreist sein.
Im Mai 2016 war es uns nach langer Suche gelungen, den 1905 in Betrieb genommenen vaporetto #20, den ältesten noch existierenden, zu erwerben, der nun, nach wechselvollen Schicksalen – er hatte zwischenzeitlich gar als Fischereiboot gedient – im Hafen von Marghera für die große Fahrt ausgerüstet und tauglich gemacht wurde. Der entscheidende Schritt ist getan: Seit Oktober 2017 liegt das Schiff im Wasser.
Nach der Amme des Dionysos tauften wir den vaporetto, der bislang namenlos, lediglich beziffert war, auf den Namen INO. Zur Durchführung des Vorhabens wurde die ›INO gemeinnützige Gesellschaft m.b.H.‹ gegründet.
Der erste Teil des Abenteuers liegt hinter uns: ein Jahr Feldlager in Marghera, dem Hafen von Venedig, zwischen zerfallenden Industrieanlagen und im Abendlicht schimmernden Öltanks, unter teils schwierigen Bedingungen. Den Winter über liegt das Schiff nun vor der Giudecca, und nach Abflauen der Winterstürme soll die INO im März 2018 in See stechen.
Die Unternehmung wird ihren Niederschlag in vielfältiger Weise finden. Kein präzise umrissener Maßnahmenkatalog, keine vorgegebenen Aktionen – was geschehen wird, findet seine Gestalt in den durchmessenen Regionen. Uferpanoramen als »Vorbeifahrlandschaften« gleichsam filmisch erlebt, die INO selbst eine Epiphanie des Reisens.
Während dieser Fahrt auf den Strecken, die sich zwischen den Orten aufspannen, füllt sich ein »Archiv der Zwischenräume«, das eben nicht ein Bezugssystem von Orten, sondern die Ausdehnung untersucht und beschreibt.
Es ist der Vorgang des Reisens als Bewegung im Raumgefüge Europas und an dessen Grenzen entlang, der die Fahrt selbst explizit zum topos werden läßt. Die Frage, ob oder inwiefern es sich bei ihrer Grand Tour um ein Kunstprojekt handelt, stellt sich für die Beteiligten nicht: Es geht um eine kaleidoskopische Versuchsanordnung zur Bestimmung des europäischen Raums – und um einen Versuch über die Wahrnehmung und die Wahrnehmbarkeit Europas als transitorischem Ort, der sich erst aus dem Erleben der Zwischenräume, der spatia erfassen läßt.
Es steht also mit dieser Entdeckungsreise eine verwegene Seefahrt und ein radikales intellektuelles Abenteuer bevor. Die Passagen der INO, das Flanieren des Bootes an den Gestaden Europens, wird auf die Zwischenräume und die Problematik eines scharf umreißbaren Kulturraums verweisen.
Die Heterogenität wie auch die unscharf umrissene Akkumulation der Krisen, im wörtlichen Sinn als Umschlagspunkte verstanden (sowohl auf die Kunst als auch auf die politische Konstruktion Europas bezogen) kann sowohl physisch als auch begrifflich faßlich gemacht werden.
Die INO-Fahrt, ein Versuch über das Reisen als eine conditio humana unter den konkreten aktuellen Bedingungen ist ein Experiment mit offenem Ausgang – keinesfalls eine Versuchsanordnung zur Bestätigung einer These oder Hypothese. So wird in letzter Konsequenz auch das Experiment selbst erst im Laufe der Fahrt seine genaue Form finden; was festliegt, ist, neben der fundamentalen Offenheit, einzig das Werkzeug, der vaporetto.
Friedrich Barth, Fritz Barth, Marghera, im Oktober 2017