DER STAND DER DINGE – JULI 2017

Notre tête est ronde pour permettre à la pensée de changer de direction.
Francis Picabia

So ganz will es freilich nicht passen, das Motto, und es liegt die Pointe von Picabias bonmot ja auch in einem möglicherweise fragwürdigen Wechsel der Bezugsebene. Der Satz eines Künstlers – eine denkwürdige Wendung der Metapher.
Nun haben unsere Gedanken ja auch keineswegs die Richtung gewechselt, und es sind unsere Absichten unverändert – die Umstände nehmen Wendungen, die in mancher Hinsicht ein Umdenken nahelegen oder gar erzwingen.
Der Reihe nach: Noch immer sind die Arbeiten am Boot nicht abgeschlossen – auch wenn die Fortschritte nun auch dem mit den Feinheiten der Dinge im Unterdeck, sprich den ganzen technischen Einrichtungen, nicht vertrauten Auge immer deutlicher sichtbar werden. Lange wird es also kaum mehr gehen. Doch auch wenn die INO einmal ins Wasser gesetzt ist, bleibt vor der schlußendlichen Abfahrt noch so manches zu tun; hier ist vor allem, neben den Feineinstellungen und Justierungen der ganzen technischen Gerätschaften, an das Einüben von allerhand Manövern zu denken, vom Anlegen bis zu Mann-über-Bord – die Fahrt anzutreten, ohne über eine gewisse Routine in den Handhabungen und eine Vertrautheit mit den Eigenheiten des Bootes zu verfügen, wäre nicht zu verantworten. Das heißt somit, die ganze Unternehmung wird erst im Spätsommer beginnen können, und es wird sich schon die Fahrt durch die Adria und um Griechenland herum in den Herbst ziehen, mit all den im günstigsten Fall bloß unangenehmen Konsequenzen, was das Wetter betrifft. So richtig lustig wird das also nicht, zumal, wenn man in betracht zieht, daß der INO zwar die Hochseetauglichkeit bescheinigt ist – aber es mag das, was in Holland, wo das Schiff registriert war und noch immer ist, unter oceaan geschiktheid verstanden wird, nicht so ganz mit unseren Vorstellungen von Zuverlässigkeit in Sturm und schwerer See in Übereinstimmung zu bringen sein. Besser also keine Wagnisse mit dem Wetter.
Nun mag man einwenden, mit ein wenig Beeilung und etwas Glück ließe sich die kritische Strecke noch vor dem Einsetzen der Winterstürme bewältigen, denn wenn einmal der Bosporus durchfahren und das Schwarze Meer erreicht sei, hätte man das Schlimmste ja hinter sich gelassen – doch liefe dies der Unternehmung völlig dawider und ließe sich mit Sinn und Zweck der Grand Tour ja ganz und gar nicht vereinbaren. Es geht uns, dies zur Erinnerung, um das flanierende Betrachten (auf Benjamin könnte an dieser Stelle verwiesen werden) – das Motto lautet nach wie vor Looting Europe – Europa ausloten (wir haben es bei ihm belassen, obwohl es gelegentlich zu Unverständnis führte – s. den Beitrag vom 1. März, Ein Brief und die Antwort darauf). Keine Hast also, allenfalls festina lente.
Die Erwähnung des Bosporus führt nun zu dem, was uns am meisten auf der Seele brennt und was wir im Augenblick für das größte Risiko ansehen, zur aktuellen Lage in der Türkei und der Unsicherheit, welche Wendungen die deutsch-türkischen Beziehungen in nächster Zeit nehmen werden. Es läßt sich nicht mit Gewißheit vorhersagen, ob wir, wenn wir die Türkei erreicht haben werden, dann zum Kreis derjenigen gehören, die mit erheblichen Behinderungen und Fährnissen zu rechnen haben. Allzu leicht würde sich uns und unserem Vorhaben irgendetwas unterstellen und anhängen lassen, was uns dann in arge Kalamitäten bringen könnte, von naserümpfenden Behörden und böswilligen Hütern welcher Ordnung auch immer, also denjenigen Organen, denen nicht notwendigerweise ein Interesse an oder Verständnis für so extravagante, auf jeden Fall ungewöhnliche Unternehmungen wie der unsrigen unterstelllt werden kann. Wie groß diese Gefahr tatsächlich ist, wie hoch die Wahrscheinlichkeit, zum Spielball in einem durchsichtigen, jedoch äußerst skrupel- und rücksichtslosen politischen Spiel zu werden, läßt sich freilich nicht abschätzen – doch ist es ja genau diese Unwägbarkeit, die uns beunruhigt und die uns die größten Sorgen bereitet.

WAS TUN?

Nun – da sich auf unserer geplanten Route die Türkei auch unter der Inkaufnahme größerer Umwege nicht umfahren läßt, müßte eine andere Strecke ins Auge gefaßt werden. Als die brauchbarste Alternative stellt sich rasch eine Überquerung der Adria auf der Höhe vom albanischen Vlora heraus, gefolgt von der Passage durch die Straße von Messina, der Fahrt durch das tyrrhenische Meer und dann via Rhône und Rhein-Rhône-Kanal in den Rhein usf. Nicht unbedingt das, was wir uns vorgestellt hatten, nur zur Not mit unserem angekündigten Vorhaben zu vereinbaren und nicht zuletzt auch hier im Herbst den Unbillen des recht garstigen Wetters ausgesetzt. Mag sein, daß wir uns am Ende gezwungen sehen werden, diese Alternative zu akzeptieren, doch wollen wir so rasch nicht aufgeben.
Bleibt also vorläufig wenig anderes, als die Entwicklung der Dinge und Verhältnisse abzuwarten. Das heißt, die Abfahrt bis ins kommende Frühjahr aufzuschieben, die Zeit bis zum Einsetzen der Herbststürme zu einer Erkundung der nördlichen Adria zu nutzen und so auch uns mit der INO und ihren zu erwartenden Eigenheiten gut vertraut zu machen, den Winter über sich zusammen mit dem Boot in Venedig einzumotten (schlechtere Perspektiven gibt es), um sich dann, vorausgesetzt, die türkische Situation habe sich bis dahin soweit beruhigt, daß eine Gefährdung ausgeschlossen werden kann, an die vorgesehene Strecke und an den ursprünglichen Zeitplan zu halten, nur eben um ein Jahr verschoben.
Unsere Entscheidung fiel am Tag des hl. Christopherus, des Schutzpatrons der Reisenden, und dies ist der Stand der Ding im Juli.