Wann, wie und wo zum erstenmal Reclams Universalbibliothek ins Spiel gebracht wurde, weiß keiner mehr genau. Möglicherweise im Zusammenhang mit Sabine Heisers Gewohnheit, zu jeder Straßenbahnfahrt ein Reclambändchen in die Handtasche zu stecken – die allerdings auch ohne weiteres einen ausgewachsenen Quartband aufzunehmen in der Lage wäre. (Wölfflin hatte sich eigens einen Mantel mit zahlreichen Taschen zur Aufnahme von Büchern schneidern lassen, um auch in der Straßenbahn stets einen kleinen Handapparat präsent zu haben, und Borges brachte sich auf den täglichen langen Straßenbahnfahrten quer durch Buenos Aires mithilfe seiner Lektüre der Commedia ein danteskes Italienisch bei.) Vielleicht war es die Verbindung von Buch und öffentlichem Verkehrsmittel, die den Anstoß gab, ist doch die INO in gewisser Hinsicht eine Verwandte der Straßenbahnen, und sind diese bei uns in Stuttgart ja noch dazu reclamgelb – wie dem auch sei: Reclam half uns aus der Klemme.
Die Überprüfung des verfügbaren Stauraums im steuerbordseitigen Auszugschrank ergab sechs Regalböden von jeweils etwas mehr als 80cm Länge, also Platz für grob geschätzt ein knappes Halbtausend gelber Bändchen im Format 9,6 x 14,8. Aus der Fülle des Universalbibliothekskatalogs war die Auswahl dann vergleichsweise einfach zu treffen, läßt sich deren ein wenig großspurig gewählter Name ja allenfalls als glücklich gefundene Metapher rechtfertigen, denn die wenig mehr als dreienhalbtausend verfügbaren Titel dürften sich zur literarischen Gesamtproduktion des Universums etwa so verhalten wie die gerade einmal eine Handvoll Beispiele, mit denen Borges seine ›Universalgeschichte der Niedertracht‹ bestückte, zu der Masse an Niedertächtigkeiten, mit der das Universum offensichtlich durchsetzt ist. Nun, es wird wohl die einzige Bibliothek, die den Anspruch auf Universalität tatsächlich mit Recht behaupten könnte, die Bibliothek von Babel sein – mit der Borges hier schon zum dritten Mal in Erscheinung tritt, er übrigens kein Desiderat in der Reclamschen Autorenliste (wer sich Borges’ präzises phantastisches Gedankenspiel ins praktische Leben holen will, transferiert in die etwas banale Wirklichkeit eines Algorithmus, der wende sich an https://libraryofbabel.info). Wenn indes auch so manches nicht zu finden war, worauf wir ungern verzichteten, so ist der positive Befund ein durchaus erfreulicher – und nicht nur, was unseren nunmehrigen Bestand an allesamt Lesenswertem, sondern auch, was die visuellen Aspekte, mehr vielleicht noch, was die Betrachtung des Konzepts betrifft. Denn kaum ein anderer Verlag wird sich finden lassen (einige Nischenproduktionen vielleicht ausgenommen), der sich in seiner programmatischen Ausrichtung und in seinem Erscheinungsbild in einem vergleichbaren Ausmaß der Abstraktheit und damit dem Konzeptualismus annähert. Dieses Konzept, dessen einzelne Ebenen sich wohl kaum voneinender abheben lassen, ist zugleich ein kulturelles, ein programmatisches, ein soziales, ein ästhetisches und auch ein wirtschaftliches – und spätestens in letzterem Aspekt ja jeglichem Abstraktem notwendigerweise abhold.
Was nun könnte sich besser in den konzeptuellen Ansatz fügen, der die Grundlage (oder den Überbau) für das Unternehmen der INO bildet, nämlich die Reise von Venedig nach Berlin als kaleidoskopische Versuchsanordnung zur Bestimmung des europäischen Raumgefüges, als ein Experiment zur Erfassung Europas als Handlungs- und Wahrnehmungsraum und als ein Fragen nach Europa als Kulturraum?