Wer zwischen der Schleuse Iffezheim (km 335,92) und der Spyck’schen Fähre (km 857,40, einem ehemaligen Eisenbahntrajekt, das zwischen 1865 und 1912 in Betrieb war und das deutsche und das niederländische Schienennetz verband) zu Schiff den Rhein befahren will, braucht ein spezielles Patent – das nicht ohne Mühen zu erwerben ist, bedarf es doch neben einer erfolgreich abgelegten theoretischen Prüfung auch des Nachweises der Streckenkenntnis, wozu ein achtmaliges Befahren des Stromes in beiden Richtungen bescheinigt werden muß. Wer ein solches Patent nicht besitzt – wie wir auf der INO –, der muß einen Kapitän engagieren. Der unsere, ein Holländer mit Namen Alvis, war uns über den Betreiber einer Fährverbindung über die Donau und leidenschaftlichen Binnenschiffer, eigentlich aber international gefragter Spezialist für Brotbacköfen vermittelt worden, dessen Bekanntschaft wir am Stammtisch des Bruckwirts im österreichischen Obermühl gemacht hatten.
Alvis bestieg die INO an der letzten Mainschleuse, Kostheim, ein gutgelaunter Mann um die siebzig, mit freundlichen blauen Augen und einer Tätowierung am rechten Unterarm, die ihn, fern der aktuellen Mode, unverkennbar als Angehörigen der Zunft der Schiffer auswies. Er fühlte sich sichtlich wohl bei uns an Bord, und auch das Steuern der INO scheint ihm Vergnügen bereitet zu haben. Beim Abendessen auf seine Kinder angesprochen – er selbst war das sechzehnte von achtzehn gewesen – , berichtete er kurz von den beiden Söhnen, um dann auf ein Mädchen zu sprechen zu kommen, die, aus Polen gebürtig und dort in prekären Verhältnissen aufgewachsen, regelmäßig von ihm und seiner Familie während der Sommerferien aufgenommen und im Wortsinne aufgepäppelt worden sei. Eines Tages habe er dann seine Söhne gefragt, was sie davon hielten, wenn Agnieszka, so der Name des Mädchens, dauerhaft bei ihnen bliebe, um dann nach ihrer Zustimmung die Eltern in Polen zu kontaktieren, die ihm ohne zu zögern den Bescheid gaben, er könne sie gerne behalten. Von da an nahmen die Dinge einen denkbar erfreulichen Lauf; das Mädchen, damals elf Jahre alt, lernte binnen weniger Wochen Holländisch, fügte sich, wie er ezählte, ohne Schwierigkeiten in die Familie ein, wurde später, als sie dies wünschte, von ihm und seiner Frau adoptiert, nahm die niederländische Staatsbürgerschaft an und lebt heute als Physiotherapeutin in Deutschland. Nicht nur dieser Bericht selbst von tätiger Humanität war uns bemerkenswert und anrührend, sondern vielleicht mehr noch die Art, in der er gegeben wurde, nicht ohne leisen Stolz, doch ohne jeglichen Anflug von Selbstgerechtigkeit oder Heischen nach Bewunderung. Bewundernswürdig war uns auch die Vernunft, die wir hier am Werk sahen, als Voraussetzung für das Gelingen dieses Akts der Nächstenliebe – deren Ursprung, wie anderen Bemerkungen Alvis’ zu entnehmen war, nicht in christlicher Überzeugung zu suchen war.
Kaum je ist uns ein Mansch begegnet, vor dem wir mit größerer Sympathie den Hut gezogen hätten.