Ein Herr, wie aus dem Ei gepellt

Sein Kleiderschrank muß von beachtlichen Ausmaßen sein – zumindest versteht er es, den Eindruck zu erwecken, als trüge er jeden Tag etwas anderes, neues. Makellos und aufs sorgfältigste geplättet ist sein Anzug, penibel gestutzt der Bart, wohlgewählt sind Krawatte und Einstecktuch, und die Farbe seines Hutbands harmoniert mit der des Sakkos.

Einzig der Blick auf sein Schuhwerk mag nicht ganz zufriedenzustellen – anstelle der um eine Spur zu weichen Slipper aus Wildleder wünschten wir ihm etwas, das ihm einen etwas solideren Stand verliehe. Überhaupt sein Gang: sehr aufrecht, doch leicht staksig geht er, hebt die Füße ein wenig zu hoch, wodurch er einen kleinen Anflug von Storchenhaftigkeit erhält. Dies verleiht ihm im Verein mit dem gerade noch kaschierten Ansatz eines Spitzbauchs, der ihm offensichtlich in jüngster Zeit gewachsen ist, auf jeden Fall erst, nachdem seine Garderobe komplettiert war, einen leicht karikaturhaften Anstrich. Jeden morgen läßt er sich mit dem Boot hier am Landungssteg absetzen, meist gefolgt von einer Assistentin, um sich in sein hier im Hafen gelegenes Geschäft zu begeben. Er betreibt es gemeinsam mit zwei weiteren Herren ähnlichen Alters, doch anderen Zuschnitts; es heißt Arti Veneziane alla Giudecca, und man kann dort einem Glasbläser bei der Arbeit zusehen. Verkauft wird authentisch Venezianisches: Glaswaren, Spitzen und Masken, doch dürfte hier wohl ein etwas erweiterter Authentizitätsbegriff in Anwendung zu bringen sein – nahezu alles, was sich in Venedig diesbezüglich angeboten findet, wird in China hergestellt. Das Publikum besteht jetzt in der Saison ausschließlich aus übergewichtigen älteren Amerikanern in touristischer Einheitskleidung, die rudelweise von Sightseeingbooten hier abgesetzt und wenig später wieder abgeholt werden. Ein DHL-Mototopo holt jeden morgen den Auswurf dieser nicht unbeträchtlichen Beutezüge ab. Im Winter waren die Besucher zum größten Teil kanadische Schüler, die in Hundertschaften hier angekarrt wurden, zu erkennen an den roten Ahornblättern auf ihren Einheitsrucksäcken.
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