FERRARI

Die Venezianer, so wird gelegentlich und nicht ohne Wehmut berichtet, seien einst als die höflichsten Menschen Italiens, wenn nicht gar auf der ganzen Welt bekannt gewesen. Viel sei davon nicht mehr übrig, was einerseits mit dem Verfall der Sitten im Gefolge des alles erdrückenden Tourismus in Zusammenhang zu bringen ist – ist doch die Höflichkeit ein Spiel, das à la longue nur betrieben werden kann, wenn seine Regeln von allen Mitspielern befolgt werden – andererseits aber auch mit dem Verschwinden der Venezianer: die Einwohnerzahl hat sich binnen weniger Jahrzehnte halbiert, und haben die Prognosen recht und es geht mit der Abwanderung in der gewohnten Weise weiter, wird die Stadt in weniger als 15 Jahren keinen Einwohner mehr haben. Oder vielleicht nur noch Nicola Ferrari, von dem wir uns nicht denken können, daß er Venedig je verließe, so sehr erscheint er als die Verkörperung der alten venezianischen Zivilisiertheit. Dabei ist er alles andere als rückwärtsgewandt, macht sich indes vor dem Hintergrund der rapiden Verrohung der Stadt wie ein liebenswerter Anachronismus aus: ein Musterbeispiel der schon ausgestorben geglaubten legendären Höflichkeit, freundlich, herzlich, zuvorkommend, ungeheuer hilfsbereit. Keinen Schritt wäre das Unternehmen der INO ohne ihn noch vorangekommen – auf seinem Gelände ist das Schiff aufgedockt, von ihm wird das Gebäude zur Verfügung gestellt, in dem wir untergekommen sind, keinen der Handwerker hätten wir ohne ihn gefunden, keine Firma, und nicht zuletzt wären wir mit allen Fragen, die in das Reich des Schiffsingenieurs fallen, heillos überfordert gewesen ohne ihn. Er entdeckte frühzeitig seine Sympathie für das INOprojekt, vielleicht wegen dessen unverkennbar absurden Aspekten, vielleicht aufgrund eines gewissen venezianischen Patriotismus (ein solcher, sympathisch und anachronistisch, würde gut zu seinem Wesen passen), und er nahm sich seiner und unser an, nahm es unter seine Fittiche, machte es zu seiner Sache. Ferrari ist Ingenieur. Sein Feld ist nicht nur die ingegneria civile e navale, sondern auch die der grandi eventi. In Venedig ist er omnipräsent – bei einem Gutteil dessen, was sich an Spektakulärem abspielt, dürfte er in irgendeiner Weise die Hände im Spiel haben. Großfeuerwerke, Kunstaktionen, Bühnen und Tribünen, Pontonbrücken, schwimmende Türme, Spektakuläres aller Art – all that drifts and floats, würde der Engländer sagen, ist sein Metier. Beleibe nicht nur Solches: Das Spektakel des volo dell’ angelo, Höhepunkt der venezianischen Karnevalssaison, bei dem ein Engel über den Markusplatz fliegt, gelingt dank seiner: er ist es, der die Seile vom campanile quer über die piazza di San Marco spannt, mit deren Hilfe ein bevorzugt prominentes und in jedem Fall weibliches Wesen über die Köpfe einer geduldig seit Stunden wartenden Menge hinweg abgeseilt wird (wir sahen’s uns aus der Ferne an, vom Boot aus, und waren wenig beeindruckt: die Dame – prominent und zweifellos attraktiv, die Frau oder Freundin irgendeines bekannten Fußballspielers – hing ein wenig schlapp an den Seilen, machte ab und zu ein paar unbeholfene Bewegungen und gab so alles in allem den Eindruck eines blauen Müllsacks, in den man einen Wurf junger Katzen gesteckt hat, um sie zu ersäufen). Mag auch Venedig Zentrum und Fixpunkt von Ferraris Aktivitäten sein, die Stadt, an der sein Herz hängt, so ist er doch keineswegs auf das Gebiet der alten serenissima beschränkt – weit über Europa hinaus reicht sein Wirkungskreis. So lasen wir unlängst auf seiner Internetseite (servizitecnicivenezia.com) beeindruckt von einem Projekt in Ghana, wo er aus den von ihm erfundenen modularen Pontons zwei Fähren für den Betrieb auf dem Volta River gebaut hatte. Sein Wirken ist somit auch beileibe nicht auf kleinere oder größere eventi und spettacoli zu reduzieren (wie etwa das vom Cipriani veranstaltete Dinner in the Sky, wo auf einer an einem riesigen Kran hängenden Plattform, eher einem filigranen Gestell, hoch über der Giudecca das Abendessen eingenommen werden konnte – nichts für Leute mit schwachen Nerven oder Blasen): Ein großer Teil seines Tuns sind Arbeiten, die im eher ›klassischen‹ Metier des Ingenieurs angesiedelt sind, etwa für die großen Werften in Marghera oder für chinesische Goldminen in Mali. Das größte Vergnügen bereitet ihm indes nach seinem eigenen Bekunden die Arbeit mit Künstlern; auch hier hat er Spektakuläres vorzuweisen: Für ein Konzert von Pink Floyd etwa baute er die schwimmende Bühne, und Christos Floating Piers wurden mit seiner Hilfe realisiert. Im Augenblick, sagt er uns, sei der Um- und Ausbau der INO sein liebstes Projekt. Wir versuchen, seiner Freundlichkeit und tiefverwurzelten venezianischen Höflichkeit irgendwie zu entsprechen. [fb]