Die Diskussion um Europa tritt auf der Stelle. Die einen sehen den Kontinent als in sich zerfallendes Konglomerat aus einzelnen Bestandteilen, die kaum etwas miteinander zu tun haben, die anderen beschwören wieder und wieder die Idee eines gemeinsamen Hauses Europa. Diese verweisen auf höchst unterschiedliche historische und politische Erfahrungen des gespaltenen Kontinents, auf das totalitäre Erbe vieler Regionen, auf die Spätfolgen der Kolonialgeschichte. Jene beschwören den inneren Zusammenhalt auf der Grundlage »europäischer Werte«.
Wieder andere entwerfen Strategiepapiere, um der Krise zwischen Defaitismus und Vision zu entkommen, sprechen von der EU als dem »zentralen Ort« für Konfliktbewältigung und die Erarbeitung auch »global anwendbarer« Lösungen. Dies alles ändert nichts an der konzeptionellen Pattsituation, in der wir uns befinden – all das Lavieren ist eher Ausdruck der Krise denn Mittel, sie zu überwinden.
Wir müssen dringend über uns selbst nachdenken, bevor wir damit fortfahren, für andere denken zu wollen. Wir müssen danach fragen, was die wirklichen Eigen-Arten des Systems Europa sind. Und ob es vielleicht nicht auch ein ganz anderes, verborgenes, in seiner Wertigkeit noch weitgehend unentdecktes Europa gibt. Ein Europa jenseits der üblichen Schlagworte und plakativen »Werte« republikanischer oder christlich abendländischer, klassischer oder fortschrittsgläubiger Natur. Ja, ob es überhaupt ein Europa, ein Europa gibt – die japanisch-deutsche Autorin Yoko Tawada stellt diese Frage auf die ihr eigene fröhlich hintergründige Art immer wieder und völlig zu Recht.
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