SELTSAM

die Bibliothek der Zukunft habe man sich, war vor einiger Zeit in der FAZ zu lesen – da Bibliotheken, wie wir sie zu kennen vermeinen, offenbar keine Zukunft mehr haben – vor allem als eine Begegnungsstätte zu denken (worunter man sich wohl so etwas wie einen Seniorentreff vorzustellen hat, nur eben für ein erweitertes Publikum, oder, will man es etwas jugendfrischer, einen Jahrmarkt). Auch das Museum der Zukunft soll eine andere Gestalt und Funktion haben, als dasjenige, das uns vetraut ist: Mehr als dem Beherbergen von Kunstwerken soll es der Begegnung der Menschen dienen (der Entwurf des Büros Herzog & De Meuron für das Berliner Kulturforum, der sich mehr noch als von außen in seinem Inneren am Vorbild der shopping mall orientiert, könnte eindeutiger kaum sein). Seltsam eigentlich. Das Feld des Öffentlichen und der Begegnung hat sich ja in den letzten Jahrzehnten, verstärkt in den letzten Jahren, verlagert, hat sich von seinen physischen Orten und damit vielleicht auch von sich selbst emanzipiert, bedarf und bedient sich des Orts nur noch als Metapher – Sennetts These vom Verfall und Ende des öffentlichen Lebens wird kaum zu widerlegen sein, so sehr wir uns dies auch wünschen mögen.

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Orșova, oder ein hilfloser Versuch über die Trostlosigkeit

Hilflos angesichts ihres Allumfassenden, ihres Ungemilderten, Zeitlosen – nichts kann vor ihr gewesen sein, nichts wird nach ihr kommen: Sie ist ein in unteilbarer Einheit verharrendes Ewiges, und leicht ließe sich sagen, man fühle sich hier, wollte man denn einem Hang zum Sarkasmus freien Lauf lassen, vom Hauch des Erhabenen gestreift. „Orșova, oder ein hilfloser Versuch über die Trostlosigkeit“ weiterlesen

Perspektive bei Walter De Maria – Teil 6

»…lines traveling out to infinite points…«
Beobachtungen zur Perspektive im Werk von Walter De Maria
Ein Essay in zehn Lieferungen

6.: Lightning Field und Mile-Long Parallel Walls in the Desert

Im Lightning Field, zweifellos einem Hauptwerk der Land Art, ist indes nicht nur das Land Teil der Arbeit – genauer: ein Teil der Arbeit –, als etwas, das sich als »ewige Gegenwart« auffassen ließe; der Titel benennt den Blitz als ein Naturphänomen von exemplarisch kurzer Dauer, die traditionelle Manifestation des Erhabenen und das exklusive Werkzeug der Götter, ja Epiphanie und Inbegriff des Gefährlichen. Auch die Blitze sind also Teil, oder ein Teil des Werks. Eine denkwürdige Äußerung Walter De Marias kann an dieser Stelle nicht unerwähnt bleiben. In einem im Mai 1960 verfaßten Essay mit dem Titel On the Importance of Natural Disasters schreibt er: »I like natural disasters and I think they may be the highest form of art possible to experience. […] I don’t think art can stand up to nature.« Es ist gerade die gezielte, vielleicht auch ironische, augenzwinkernde Inkonsequenz, mit der hier die Natur in einem Atemzug als Form der Kunst aufgefaßt und gleichzeitig ihr entgegengesetzt wird, die als Hinweis darauf genommen werden kann, daß das Gegenüberstellen von Kunst und Natur als zweier entgegengesetzter Pole, auf die die europäische ästhetische Diskussion der Neuzeit beharrt, für den Künstler keine Bedeutung hat.
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Mircea Dinescu über Port Cetate

Der Port Cultural Cetate erhob sich aus der Asche des ehemaligen Getreidehafens, der um 1880 herum angelegt worden war, in jenen Tagen, als Weizen nicht wie heute dem Asphalt entsprießen konnte und in Wien die Croissants mit dem Mehl gebacken wurden, das mit dem Raddampfer aus Cetate gebracht wurde.
1945 wurde der Hafen geschlossen und seine Gebäude in Kasernen der Grenzpolizei umgewandelt, während der Weizen unerwarteterweise seinen abenteuerlichen Weg moskauwärts nahm. Die im Hafen registrierten Getreidehändler, etwa eintausend, darunter eine große Anzahl Juden und Griechen, wählten entweder die Emigration, oder sie verschmachteten in kommunistischen Gefängnissen.

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Meine erste Schleuse

Nein, die erste war es genaugenommen nicht – die dürfte auf dem Neckar gewesen sein, auf einem der beiden Schiffe der Neckar-Personen-Schiffahrt Berta Epple, also entweder auf der Stuttgart oder auf der Dorothea Epple, die beide am 7. März 1957 in Dienst gestellt wurden und seither den Personenverkehr zwischen Stuttgart und Heilbronn bedienen. Doch war dies vor Jahrzehnten, als Kind und als Passagier.

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Wider den Witz getrommelt und gepfiffen

In den vergangenen Tagen konnte man sich des Eindrucks kaum erwehren, es zeichne sich, nach einer Reihe von mehr oder minder erfolgreichen Kampagnen (der Erfolg derjenigen gegen das Rauchen und die Raucher setzte hier die Maßstäbe, und so hört man allenthalben allerhand hahnebüchenen Unfug, wie etwa, daß das Sitzen das neue Rauchen sei) eine neue ab, nämlich gegen den Witz – fast synchron war zu hören, hier sei nun aber doch wirklich eine Grenze überschritten, und man habe bestimmte Arten von Witzen zurecht endgültig satt, und speziell der Erzählende könne sich in seiner Position einen solchen Witz auf keinen Fall leisten. All dies bei denkbar harmlosen Anlässen – aufregen können hätte man sich allenfalls über die Dürftigkeit der Pointen und die mangelnde Schärfe – über das Defizit an Witz im Witz also. Und tatsächlich stand, so haben wir es im Gedächtnis – bedauerlicherweise läßt sich nicht mehr eruieren, wer hier wo schrieb –, im Kommentar einer der großen Tageszeitungen zu lesen, es sei, da des Witzes Wesen grundsätzlich auf Diskriminerung abziele, auf eine bessere, unserem nunmehr erreichten Zivilisationsstand entsprechende witzfreie und witzlose Zeit zu hoffen – der Witz, so stand zu lesen, meinen wir uns zu erinnern, sei das neue Rauchen. — Wir enthalten uns eines Kommentars und setzen an seine Stelle Kleists »Anekdote aus dem letzten Kriege«:
 

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Architektur als Zeitreise: Der denkwürdige Eklektizismus der Handelskammer in Mantua

Aldo Andreani, Palazzo della Camera di Commercio, Mantua, Blick von der Treppe durch die lucerna in die Loggia del Mercato
Spätestens seit Prousts Beschreibung der Kirche von Combray im 1913 erschienenen ersten Band der Recherche können wir uns den Raum der Architektur als einen vierdimensionalen denken, seine drei überkommenen Dimensionen erweitert um eine vierte, die der Zeit. Proust hat jedoch nicht in erster Linie die Architektur im Sinn – er läßt ein vieldimensionales Bild entstehen, das der Erzäh­lende aus seiner Kindheit her im Gedächtnis hat und in dem sich individuelle und kollektive Erinnerung verweben. Kunst- und Kultur­ge­schich­te, Geschichte überhaupt; die Kirche der Kindheit mit ihren Gräbern, Tapis­serien und Glasfenstern, ihren Spuren von Zeit und Verfall, ihren Schichten und Überlagerungen entbirgt Frü­hestes, nicht individuell Erinnerbares. Ferne und fernste Vergan­gen­heit wird beschwo­ren, Mittelalter, selbst pagane Tradition – er geht zum Platz der Familie in der Kirche »wie durch ein von Feen bewohntes Tal, in dem der Landmann mit Staunen an einem Fel­sen, einem Baum, einem Teich die noch greifbare Spur ihres geisterhaften gelegentlichen Erscheinens erkennt«.

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Brücken der Freundschaft

›Brücken der Freundschaft‹ gibt es eine beachtliche Anzahl, und man fragt sich, wie groß der Anteil an Euphemismus sein mag, der in den einzelnen Fällen dem Bauwerk zur Namensgebung verhalf, und man mag sich auch fragen, ob das Verbindende, das einer Brücke ja grundsätzlich eignet, nicht schon den Kern des Freundlichen, ja Freundschaftlichen in sich birgt und sich eine ›Freundschaftsbrücke‹ somit als ein Pleonasmus erweisen würde. Denn wer hätte ob solch hochgestimmter Brückenmetapher je auf eine Benennung wie etwa ›Brücke der Zwietracht‹ verfallen können?
Nicht lange ist es her, daß wir unter einer solchen ›Brücke der Freundschaft‹ hindurchfuhren, und um der Vollständigkeit der Erfahrung einige Tage später auch noch darüber, jenes mit der INO, dieses im Taxi. Es ist hier die Rede von der Brücke, die zwischen Giurgiu und Ruse, dem uns als Rustschuk besser bekannten Geburtsort Canettis, die Donau überspannt und auf hunderte von Kilometern die einzige Straßenverbindung zwischen Rumänien und Bulgarien herstellt.

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Perspektive bei Walter De Maria – Teil 5

»…lines traveling out to infinite points…«
Beobachtungen zur Perspektive im Werk von Walter De Maria
Ein Essay in zehn Lieferungen
5.: The Broken Kilometer
 

Vor dem Hintergrund dieser Aussage fällt es nicht allzu schwer, dem bisher Gesagten zumindest eine gewisse Plausibilität zuzugestehen. Denn obwohl der Einspruch berechtigt ist, die perspektivischen Eigenheiten von Apollo’s Ecstasy seien ja ohne weiteres auch als unbeabsichtigte Folgen gänzlich anderer Intentionen zu erklären, läßt sich das Beharren des Künstlers auf die Vieldeutigkeit (ambiguity) und die Bedeutungsvielfalt ja als Hinweis darauf verstehen, daß in den auf denkbar einfache Elemente und Konstellationen reduzierten Kunstwerken eine überraschende Anzahl von Bedeutungsfacetten zu einem konsistenten Knoten geschürzt sei.

The Broken Kilometer. Photo Jon Abbott, © Estate of Walter De Maria

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Perspektive bei Walter De Maria – Teil 4

»…lines traveling out to infinite points…«
Beobachtungen zur Perspektive im Werk von Walter De Maria

Ein Essay in zehn Lieferungen

4.: Apollo’s Ecstasy
Apollo’s Ecstasy. Photo Fritz Barth, © Estate of Walter De Maria
Apollo’s Ecstasy, im Besitz des Stedelijk Museum in Amsterdam, besteht aus 20 je fünf Meter langen polierten Bronzestäben, die im Abstand von jeweils einem Meter schräg zur Raumachse parallel auf den Boden gelegt sind, wobei sie insgesamt ein Parallelogramm bilden, das in ein Rechteck von 4 x 22 m einbeschrieben ist. Der Winkel von ca. 37°, den die Stäbe zur Achse bilden und der genau den Diagonalen der Säulenstellung im Raum entspricht, richtet sich nach dem einfachsten der pythagoreischen Tripel, dem rechtwinkligen Dreieck mit den Seitenverhältnissen 3:4:5, was sich gut zu der Beobachtung fügt, daß Walter De Maria das Beunruhigende, letztendlich Unergründliche, das dem Kunstwerk grundsätzlich zu eignen scheint, gerade an Einfachstem, am Grundlegenden festmacht, oder daß es gerade dieses Einfachste ist, das mehr als alles andere die Frage nach dem Grundsätzlichen zu stellen zwingt. Tatsächlich scheint Apollo’s Ecstasy Derartiges zu betreiben, und es ist vielleicht genau die Frage, was die explizit einfache Anordnung einfachster Gegenstände zum Kunstwerk macht, die, über die Frage nach dem Kunstwerk selbst hinaus, diejenige nach seiner Transzendenz zu stellen zwingt.

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Von den Schlössern der Zigeuner

Modell für den Palast des ehemaligen Kaisers der russischen Zigeuner in Hermannstadt (Sibiu). Photographie von Carlo Gianferro aus: Renata Calzi und Patrizio Corno, Gypsy Architecture, Stuttgart/London (Edition Axel Menges) 2007.

Ob wohl die Zigeuner eine ähnlich romantische Vorstellung von festen Häusern haben mögen wie wir Seßhaften vom freien und kühnen Nomadenleben? — Die Wirklichkeit des fahrenden Volks sieht freilich wenig romantisch aus, wie wir wissen, und die trostlose Wirklichkeit der erzwungenen Seßhaftigkeit dürfte die Zigeuner zumindest in Rumänien rasch von jeglicher Romantik geheilt haben, sollte je die Gefahr einer solchen bestanden haben (für Goethe war sie ja von Anbeginn an eine Krankheit).

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Vom Hängen-, Stecken-, Stehen-, Liegen- & Sitzenbleiben, oder ›Heimat, deine Sterne!‹

Der geneigte Leser kann sich eines davon aussuchen. Jedes davon beschreibt die Lage der INO, seit nunmehr drei Wochen bei Kilometer 500 auf der Donau und auf unbestimmte Zeit. — Neben das Hängenbleiben hat die Sprache das Herum- und das Durchhängen gesetzt, was zwar nicht den Zustand des Schiffs, dafür aber um so besser den der Besatzung beschreibt.
Doch der Reihe nach: Die Hoffnung und Verheißung des Deltas, nach den schwankenden Fährnissen der Seefahrt nähme nun die Fahrt auf den ruhigen Fluten der Donau einen gleichmäßigen und sozusagen gemütlichen Lauf, erwies sich recht bald als trügerisch; in der Folge des nahezu niederschlagslosen Sommers sind die Pegel auf historische Tiefstände gesunken, ist der Verkehr so gut wie zum Erliegen gekommen und die Fahrt zu einer Folge nervenauf- und –zerreibender Zitterpartien geworden. Größere Unheil freilich blieb erspart – zweimal nur sind wir aufgesessen, einmal beim Versuch, einem entgegenkommenden Schubverband auszuweichen, was uns an einem kritischen Punkt zum Verlassen der Fahrrinne zwang, und einmal völlig unerwartet an einer Stelle, wo solches eigentlich ausgeschlossen hätte sein müssen. In beiden Fällen ging es ohne Schäden ab, doch wuchs ein unbehagliches Gefühl der Unsicherheit. 

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La lupta de la Caransebeş, oder balkanische Mißverständnisse

Im Jahr des Herrn 1788 zog die österreichische Armee unter der persönlichen Führung von Kaiser Joseph II. mit hunderttausend Mann gegen die Türken ins Feld – mit wenig Begeisterung wohl und erst nach langem Zögern, doch durch ein Bündnis mit Rußland gezwungen. Der Feldzug nahm für die Österreicher keinen guten, ja tatsächlich einen katastrophalen Verlauf, und die Tuberkulose, die sich der Kaiser auf dem Feldzug zuzog, sollte ihn schließlich zwei Jahre später das Leben kosten. In der Nähe der Stadt Karánsebes (Caransebeş) kam es am 17. September zu einem denkwürdigen Vorfall, dem, wenn er denn wahr sein sollte, ein besonderer Platz im Florilegium der militärischen Mißgeschicke zukommt. Die Avantgarde, ein Kontingent Husaren, das zwecks Rekognoszierung die Temesch überquert hatte, stieß zwar auf keine Türken, dafür aber gegen Abend, als es schon zu dunkeln begann, auf eine Gruppe von Zigeunern, die einige Fässer Branntwein feil hatten. „La lupta de la Caransebeş, oder balkanische Mißverständnisse“ weiterlesen